- 77 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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1.1 Goethes Werther-Roman, Mythologie und Moderne


Als kulturgeschichtlich später Reflex antiker Labyrinthtänze begegnet uns im folgenden der Walzer. Tanzhistorisch betrachtet gehört ihm das 19. Jahrhundert. Als Paar-Drehtanz im langsamen Dreivierteltakt geht er im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts aus Ländler und Allemande hervor, steigert im Verlaufe des 19. Jahrhunderts das Tempo, wirkt im mittleren Zeitmaß beruhigend und euphorisiert als rascher Drehtanz. Seine stimulierende Wirkung steht im Gegensatz zur strengen musikalischen Form. Die Schwerkraft der Musik zum Grundton entspricht der Empfindung des Gleichgewichts in der Bewegung. Die rasche Drehbewegung verunsichert die räumliche Orientierung beim Tanzen, die Musik bietet einen rhythmischen Leitfaden und stabilisiert im gleichförmig pulsierenden Dreivierteltakt das innere Gleichgewicht. Labyrinth und Walzer sind in vergleichbarer Weise Bewegungsfiguren der räumlichen und zeitlichen Orientierung.

     Modulationen in entlegene Tonarten, freitonale und zwölftönige Walzerkompositionen bringen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Störung des inneren Gleichgewichts zum Ausdruck: Reflex des gesellschaftlichen Wandels infolge der Industrialisierung von Kultur und Tradition, zunehmender Fremdbestimmung des einzelnen und katastrophischer Kriegserfahrungen. Der Tänzer des ausgehenden 18. Jahrhunderts scheint allein um die äußere, räumliche Orientierung bemüht. Doch wetterleuchtet es bereits am Beginn der Literaturgeschichte des Walzers beträchtlich.

     Werthers Leiden beginnen beim "Deutschen", einer frühen Bezeichnung für den sich gegen das französisch-aristokratische Menuett bürgerlich revolutionär gebärdenden Walzer. Goethes Werther-Roman bezeugt die innere Übereinstimmung des Walzers mit der labyrinthischen Struktur der Erfahrung von Einsamkeit. Lotte und Werther begegnen sich in Umkehrung der griechischen Theseussage auf dem gemeinsamen Weg zum Tanz. Umgekehrt deshalb, weil der Walzer, den sie im Jahre 1774 tanzen, den Beginn der Verwicklungen und Gefahren kennzeichnet, die mit Werthers Tod enden, während der "Kranichtanz", den "Daidalos für Ariadne kunstvoll schuf", in der Nachahmung der verschlungenen Wege des Labyrinths und der Überwindung des Minotauros den Ausgang aus einer existenziell bedrohlichen Lebenssituation feiert.

     Albert, Lotte und Werther gehen im ersten Teil des Romans auf den Hannoverschen Gesandtschaftssekretär Johann Christian Kestner (geb. 1741), seine Verlobte Charlotte Buff (geb. 1753), Tochter des verwitweten Amtmannes des Deutschen Ordens


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