- 8 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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Indessen beschränkt sich die hermeneutische Erfahrung nicht auf die Korrektur einer beliebigen Täuschung. Nicht dieses oder jenes führt zur Einsicht. Immer betrifft die Negation unserer Vormeinung von einem menschlichen Gegenüber, einem Gegenstand der Geschichte und der Künste ein allgemeines und entscheidendes Kriterium unserer Beurteilung. Sie wirkt auf das Ganze unserer Person zurück. Entscheidend ist die persönliche Betroffenheit.

     Nach dem Vorbild der Begegnung zwischen Ich und Du begegnen wir auch der geschichtlichen Überlieferung. Das uns Befremdende der Geschichte ist das uns Fremde unserer selbst. Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein besteht in der Wechselwirkung zwischen Geschichte und Bewußtsein. Unsere Auffassung der Geschichte wirkt auf diese wie auf uns selbst zurück. Die geschichtliche Erfahrung im Sinne Hegels aber ist (nach Gadamer) jene, "die das Bewußtsein mit sich selber macht" (337). Indem der einzelne im Fremden der Überlieferung das Andere seiner selbst erkennt, ist er ganz bei sich selbst. Der Prozeß der geschichtlichen Erfahrung endet nach Hegel im vollständigen "Sichwissen", welches "kein Fremdes mehr außer sich hat". Ziel der Geschichte ist die Identität von Geschichte und Bewußtsein (Vgl. Wahrheit und Methode, 337-338).

     In diesem entscheidenden Punkt weicht Gadamer von Hegel ab. Erfahrung vollendet sich nicht im Alleswissen und -kennen. Der Erfahrene öffnet sich neuen Erfahrungen und ist bereit, durch neue Erfahrung zu lernen. Geschichtlich betrachtet ist die hermeneutische Erfahrung unabschließbar. Sie bleibt niemandem erspart und muß von jedem einzelnen erworben werden. Sie beruht auf der Enttäuschung von Erwartungen. Sie gehört dem geschichtlichen Wesen des Menschen an. Was Gadamer als hermeneutische Erfahrung entfaltet, ist wesentlich Einsicht ins Ich (Vgl. Wahrheit und Methode 338).

     In der Formel des Aischylos "Durch Leiden lernen", wird deutlich, warum es so ist. Der einzelne erfährt in der Enttäuschung von Erwartungen die unüberwindlichen Grenzen des Menschseins, mithin die Unaufhebbarkeit der Grenzen zu Gott.


Erfahrung ist also Erfahrung der menschlichen Endlichkeit. Erfahren im eigentlichen Sinne ist, wer weiß, daß er der Zeit und der Zukunft nicht Herr ist. Der Erfahrene nämlich kennt die Grenze alles Voraussehens und die Unsicherheit aller Pläne. ... Die eigentliche Erfahrung ist diejenige, in der sich der Mensch seiner Endlichkeit bewußt wird. An ihr findet das Machenkönnen und das Selbstbewußtsein seiner planenden Vernunft seine Grenze. Es erweist sich als bloßer Schein, daß sich alles rückgängig machen läßt, daß immer für alles Zeit ist und alles irgendwie wiederkehrt. Der in der Geschichte Stehende und Handelnde macht vielmehr ständig die Erfahrung, daß nichts wiederkehrt.  

(Gadamer, Wahrheit und Methode 339-340)


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