- 81 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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Zerlinas Musik klingt, als dränge sie durchs offene Flügelfenster in den weiß und goldenen Saal des achtzehnten Jahrhunderts. Sie singt noch Arien, aber deren Melodien sind schon Lieder: Natur, deren Hauch den Bann des zeremonialen Wesens löst und doch noch von den Formen umfangen ist, geborgen beim verblassenden Stil. Im Bild Zerlinas hält der Rhythmus von Rokoko und Revolution inne. Sie ist keine Schäferin mehr und noch keine citoyenne. Sie gehört dem geschichtlichen Augenblick dazwischen, und an ihr geht flüchtig eine Humanität auf, die unverstümmelt wäre vom feudalen Zwang und geschützt vor bürgerlicher Barbarei. Manche Gedichte und manche Gestalten des jungen Goethe haben etwas davon. "Und so tritt sie vor den Spiegel/All in ihrer Munterkeit" ist ihr Miniaturportrait, und wie Friederike steht sie "auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorgen geben könnte; der Strohhut hing ihr am Arm und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmut und Lieblichkeit zu sehen". Die, ohne sich etwas Arges zu denken, den Liebhaber für ihre Treulosigkeit entschädigt, indem sie ihn ermuntert, sie zu schlagen, und die rustikale Roheit zum Raffinement verklärt - sie nimmt den utopischen Zustand vorweg, in dem der Unterschied zwischen Stadt und Land aufgehoben ist. (...) Ewig ist sie als Gleichnis der Geschichte im Stillstand. Wer in sie sich verliebt, meint das Unaussprechliche, das aus dem Niemandsland zwischen den kämpfenden Epochen mit ihrer silbernen Stimme tönt.

(Adorno, "Huldigung an Zerlina" 34-35)


Adornos "Niemandsland" ist das Jenseits. Zerlina spricht als eine, die, wie der Walzer in seiner Bewegungsfigur, in ihrer Person Leben und Tod verbindet. Sie ist die moderne Göttin der Unterwelt. Wer sich im Walzer dreht, findet, ohne es zu wissen und zu wollen, zu ihr.

     Die Frage nach der Verbindung zwischen der Musik und der Bewegung des Walzers bleibt bei Mozart wie bei Goethe offen. Werther erinnert sich seiner selbst beim Beginn des Balls als eines Träumenden. Die Erinnerung der Musik erscheint von der Bewegungserinnerung überlagert und verdeckt. Der Zustand des Wachträumens beim Hören der Tanzmusik verbindet als ein "Hellhören" im Sinne Ernst Blochs Bewegungen in einem objektiven Raum und in einer konkreten geschichtlichen  Zeit mit vorindividuellen mythologischen Vorstellungen und Bildern.

     Erst am Ende des dritten "Englischen Tanzes" gesteht Lotte dem Tänzer ihr Verlöbnis mit Albert. Werther verirrt sich in einer Art Taumel zwischen den Tanzpaaren. Das Motiv des Taumels und die Gefahr des Sturzes sind Bestandteile einer "Poetischen Traum-Theorie", die Karl Heinz Bohrer in der Ästhetik des Schreckens an Ernst Jüngers Frühwerk entwickelt. Für Jünger ist der Traum ein "Wahrnehmungszustand,


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