- 82 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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der Gewißheit schafft, und eine autonome, nicht mehr relativierbare Gültigkeit bekommt ...". Er ist vergleichbar mit dem "Sturz in die Tiefe. Es sind Augenblicke des Übergangs und deshalb sind sie dem Schrecken nahe." (Bohrer, Ästhetik des Schreckens 202). Dem Übergang vom Träumen zum Wachen entspricht der vom Leben zum Tod. Wir erschrecken in einem Augenblick, der das für tot gehaltene als lebendig erweist, und umgekehrt, wenn sich das scheinbar Lebendige als Totes zu erkennen gibt.  

     Im Liederzyklus Die Winterreise unterscheidet Franz Schubert Gehbewegungen im Traum und im Wachen durch den Wechsel der Tongeschlechter Dur und Moll. Dur bezeichnet den Traum, Moll den Wachzustand. Schuberts Psychologie der Modulationen trägt zur Auflösung der Dur-Moll-Tonalität am Beginn des 20. Jahrhunderts bei. Innerhalb der Literatur und Malerei der Jahrhundertwende verschwimmt die Grenze zwischen Traum und Wachbewußtsein. Sie wird in der Folge der Traumdeutung auch von der Psychoanalyse als fließend erkannt.

     Im Jahr 1895 bezeichnet Sigmund Freud den lokomotorischen Schwindel als zentral für die klinische Symptomatologie der Angstneurose. Er besteht in einem spezifischen Mißbehagen, "begleitet von den Empfindungen, daß der Boden wogt, die Beine versinken, daß es unmöglich ist, sich weiter aufrecht zu halten und dabei sind die Beine bleischwer, zittern oder knicken ein. Zum Hinstürzen führt dieser Schwindel nie" ("Über die Berechtigung" 32). Freud beschreibt die Symptome der Agoraphobie: Sie sind an die Fortbewegung gebunden. Gelegentlich sei das Gehen nach einem ersten Schwindelanfall ohne Angst ständig von der Sensation des Schwindels begleitet, bleibe jedoch ohne Einschränkung möglich. Es versagt aber unter den Bedingungen des Alleinseins, der engen Straße u. dgl., wenn zum Schwindelanfall Angst hinzukommt.

Im Zusammenhang des Walzers erscheint die Empfindung des Taumels in der Fortbewegung als eine Bewegungsqualität, die an der Seite des Übergangs vom Träumen zum Wachen als Spiegelbild des Wechsels zwischen Leben und Tod steht. Von hier aus öffnet sich ein weiter Fragenkreis: Offen bleibt die Frage nach der Verbindung musikalischer Formen und Formtendenzen mit labyrinthischen Bewegungserfahrungen. Für den Zusammenhang von Walzer und Angst ist die Musik keineswegs nebensächlich. Mit der Walzerbewegung als Orientierungs- und Erinnerungsfigur erscheint sie elementar verbunden.

     In der Schilderung der Begegnung zwischen Lotte und Werther spielt die Tanzmusik nur scheinbar eine untergeordnete Rolle. In Wahrheit nimmt sie Einfluß auf Werthers seelische Befindlichkeit in einer für ihn entscheidenden Lebenssituation. Die Folge der Tanzmusiken bestimmt nicht allein die Erzählstruktur. Als eine Art


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