- 27 -Schmidt, Patrick L.: Interne Repräsentation musikalischer Strukturen 
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Lösung keine Rechenschritte. Man weiß z. B. das Ergebnis von 9 × 9. Dies äußert sich in geringeren EMG-Werten (s. a. Louis William Max 1937). Charakteristische Anstiege der muskulären Aktivität in der Zunge und deren graduelle Abschwächung sind nach Sokolov auch beim stillen Lesen eines Textes recht ausgeprägt: Zunächst sind die Mikrobewegungen sehr intensiv und zahlreich, später werden sie immer schwächer und treten weniger häufig auf, ohne jedoch vollständig zu verschwinden. Für eine zunehmende Automatisierung motorischer Bewegungen spricht auch, dass die elektrische Aktivität in der Muskulatur des Stimmapparates bei Vorstellungen mit sprachlichem Inhalt bei Kindern beträchtlich höher als bei Erwachsenen ausfällt (McGuigan et al. 1964; McGuigan & Pinkney 1971; Sokolov 1972). Bei Kindern mit besonders stark ausgeprägter Aktivität im Stimmapparat beim Lesen verringert sich mit den Jahren und der damit einhergehenden Verbesserung der Lesefähigkeit die Amplitude der verdeckten sprachmotorischen Prozesse auf das Niveau eines gesunden Erwachsenen (McGuigan & Bailey 1969b). Frank Joseph McGuigan (1970b) fand auch einen inversen Zusammenhang zwischen motorischen Prozessen im Stimmapparat und den handschriftlichen Fähigkeiten seiner Probanden. Gegen Sokolovs Automatisierungs-/Habituierungshypothese spricht allerdings, dass die Zungenbewegungen bei Versuchspersonen, die zuvor die Anweisung erhalten hatten einen Text zu lesen und diesen danach inhaltlich wiederzugeben, im Zeitverlauf intensiver wurden und an Häufigkeit zunahmen (Sokolov 1972). Ebenso zeigte sich in einer Studie von Louis William Max (1937) bei längeren Lösungsphasen von Kopfrechenaufgaben, dass die EMG-Werte in der zweiten Hälfte einer jeden Messung tendenziell höher als in der jeweils ersten Hälfte ausfielen.

Der Vollständigkeit halber sei noch das Ergebnis einer Einzelfallstudie erwähnt, das ebenfalls im Widerspruch zu A. N. Sokolovs Automatisierungshypothese steht: Frank Joseph McGuigan und Madeline H. Shepperson (1971) erhöhten in einer therapeutischen Maßnahme bei einem Kind die mit einem standardisierten Test gemessene Lesekompetenz. Die von Zunge und Kinn abgeleiteten EMG-Werte stiegen im Vergleich zum Pretest ebenfalls an. Dies ist der einzige – wenn auch anekdotische – Hinweis darauf, dass die Verbesserung einer kognitiven Fähigkeit mit einer Erhöhung der elektromyographischen Aktivität im Stimmapparat einhergeht. Alle anderen hier vorgestellten Studien sprechen für einen inversen Zusammenhang zwischen sprachbezogenen Fähigkeiten und elektromyographischer Aktivität in der Sprechmuskulatur.

Abschließend sei noch auf die Möglichkeit verwiesen, dass motorische Prozesse im Kehlkopf nicht in direktem Zusammenhang zu musikalischen Klangvorstellungen stehen. Auch eine Veränderung der Atmung, Schluckbewegungen sowie die reflektorische Verschlussfunktion der Stimmlippen zum Schutz der Atemwege vor Fremdkörpern wird über die Kehlkopfmuskulatur gesteuert. Zudem werden die Kehlkopfmuskeln vom Nervus Vagus innerviert, der z. B. auch eine Rolle bei der Regulierung der Herzfrequenz sowie viszeraler Funktionen spielt (Birbaumer & Schmidt 2003). Außerdem besteht eine Verbindung zum limbischen System, in dem Emotionen verarbeitet werden. Da in mehreren Studien Einflüsse von Musik auf die Atem- und Herzfrequenz, Blutdruck und Hautwiderstand festgestellt wurden (Übersicht in Rötter 2005), könnte man auch argumentieren, dass es sich bei den Kehlkopfbewegungen


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