- 39 -Schmidt, Patrick L.: Interne Repräsentation musikalischer Strukturen 
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können wir […] in Gedanken nicht in schnellerem Tempo durchlaufen, als in welchem wir im Stande sein würden, sie zu singen« (S. 480).

Dagegen vertrat B. M. Teplov (1966) in Übereinstimmung mit Carl Stumpf und Otto Abraham den Standpunkt, dass man sich hochvirtuose Passagen, die man unmöglich selbst spielen oder singen kann, dennoch mit vollkommener Klarheit vorstellen könne.

Andrea Halpern (1988b) ließ Musiker und musikalische Laien vertraute Lieder (z. B. »Oh when the saints« oder »Twinkle twinkle little star«9

9 Melodie von »Morgen kommt der Weihnachtsmann«

) in unterschiedlichen Tempi vorstellen, die sie auf einem Metronom einstellen konnten. Halpern wollte – analog zu ihrem oben beschriebenen Tonhöhenversuch – die obere und untere Grenze der Tempovorstellung für jedes Lied bestimmen, ab der die Melodievorstellung zu schwierig oder unmöglich wird. Die schnellsten und langsamsten Tempoangaben betrugen im Mittelwert 164 bzw. 65 Bpm.10
10 Beats per minute = metrische Grundschläge pro Minute

Halperns Ergebnissen aus dem Tonhöhenversuch, geben die Metronomeinstellungen kein absolutes Limit der Tempovorstellung wieder, sondern wurden im Zusammenhang mit dem jeweiligen Lied – vielleicht im Sinne eines ästhetischen Urteils – vorgenommen. Möglicherweise kommen die relativ moderaten Tempoangaben dadurch zustande, dass sich die Probanden die Lieder mit Text vorstellen sollten. Aus der Studie geht allerdings auch nicht eindeutig hervor, ob ein Schlag des Metronoms einem oder mehreren vorgestellten Melodietönen entspricht. Es erscheint zudem durchaus möglich, sich zumindest die Melodien dieser Lieder (ohne Text) wesentlich schneller bzw. langsamer vorzustellen oder diese sogar zu singen. Extrem schnelle Tonfolgen können schließlich z. B. durch Glissandi oder mit Flatterzunge stimmlich nachgeahmt werden. T. L. Bolton (1894) zeigte, dass das subjektive Rhythmusgefühl bei der auditiven Wahrnehmung von Melodien erst zusammenbricht, wenn die zeitlichen Intervalle zwischen zwei Tönen kürzer als 115 msec oder länger als 1,58 sec sind. Nach Paul Fraisse (1982) wird ab einem zeitlichen Abstand von zwei Sekunden zwischen zwei Tönen keine zusammenhängende Reihe mehr wahrgenommen. Rechnet man diese Werte in Töne pro Minute (hier mit »TpM« abgekürzt) um, so erhält man eine Obergrenze der auditiven Tempowahrnehmung von ca. 522 TpM und eine Untergrenze von 38 bzw. 30 TpM. Diese Obergrenze entspricht Sechzehntelnoten bei einer Metronomeinstellung von ca. 131 Bpm. Vielleicht hatte Rudolph Hermann Lotze mit seiner auf dieser Seite zitierten Aussage Recht. Eine differenzierte Vorstellung einer Tonfolge in Sechzehnteln in diesem Tempo dürfte ebenso wie deren kontrollierte stimmliche Nachahmung äußerst schwer fallen.

Donald Olding Hebb (1949; 1966; 1968) sah Imagination als eine Form des prozeduralen Wissens im Gedächtnis an. Er postulierte, dass motorische Komponenten sowohl in der Perzeption als auch in der Vorstellung eine wesentliche Rolle spielen (1949, S. 34–37). Ihm zufolge könnten die an der Wahrnehmung und Vorstellung beteiligten motorischen Prozesse die Funktion der sequentiellen Organisation zeitlicher Muster erfüllen. Auch Ivan Mikhailovich Sechenov (1965) hatte angenommen, dass Bewegungen neben der Verbesserung der Wahrnehmungsbedingungen dazu dienen, den kontinuierlichen Strom von Sinnesempfindungen in eine Reihe separater Wahrnehmungsakte zu unterteilen und eine Verbindung zwischen diesen zu


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