- 186 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (185)         Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 



und noch längst nicht Allgemeintrend) zu Neuer Musik sowie zum Jazz. Hier hinein kommt Adorno und entfachte mit seiner "Philosophie der Neuen Musik" 1949, mit seinen "Thesen gegen die musikpädagogische Musik" 1954 und mit seiner "Kritik des Musikanten" 1956 ein befreiendes Feuer. Wir versuchten, die hilfreichen Thesen Adornos im Rücken, unseren neuen Ideen Raum zu schaffen, nämlich einen Musikunterricht zu verwirklichen, in dem man wirklich etwas lernt. Der Kampf gegen die jeweiligen Schuldirektoren, die den Musikunterricht als willkommenen Betreuer von Weihnachts-, Advents- und Schulentlassungsfeiern vereinnahmen wollten, war nicht so einfach. Die ganze "musische Welt" wollte fröhliches Falala; wir setzten dagegen mit Adorno den Gedanken, Musik sei nicht Ausgleich zu wissenschaftsorientierten Fächern, sondern "Ernstfall". Ich bin überzeugt, ohne eine entsprechende Disposition in der jungen Lehrerschaft wären Adornos Gedanken und Absichten ins Leere gelaufen.


D.: Ich bin ganz erstaunt über die Umbrüche, die Sie erlebt haben. Ich sehe und höre und erlebe im Gegenteil, daß heute die musische Vereinnahmung des Schülers wieder die lebhaftesten Blüten treibt und treiben wird. Mir scheint, als sei nicht überall durchgedrungen, was Adorno anstrebte, daß nämlich das Werk im Mittelpunkt aller Bemühungen zu stehen habe und nicht die pädagogische Rücksicht auf den Schüler. Diese "Vereinnahmung" betrifft ja nicht nur den Musikunterricht, das alles hat zu tun mit dem zur Zeit grassierenden Anti-Intellektualismus, der schon in der Kritik Adornos eine Rolle gespielt hatte. Ich sehe also die musische Bewegung durchaus fortgesetzt.


Gieseler: Meine Umbrucherlebnisse mit Adorno kann ich nicht durchweg verallgemeinern, die Situation ist heute wieder anders als zur Zeit der beginnenden 60er Jahre: Damals ging der Trend eher zum Rationalen, heute vielleicht wieder eher umgekehrt. Adorno hat sich mit seinen Gedanken für den Musikunterricht nicht überall wirklich durchgesetzt. Häufig auch blieb die entsprechende Diskussion in Hochschulkreisen stecken und gewann nicht immer Stoßkraft in die Schulen hinein. Wenn es mit einem gegenwärtigen Anti-Intellektualismus stimmen sollte, dann hätten wir wieder eine typisch deutsche Situation, nämlich das Pendeln in Extremen: Hie Emotio, hie Ratio; hie musisch getönter Irrationalismus, hie rational überdrehte Curricula, die wiederum das Pendel in Richtung Irrationalismus provozieren. Kann man diese Extremhaltung nicht einmal überwinden? Meine Grundeinstellung zu diesem Gesamtkomplex ist die Forderung nach Balance. Ratio und Emotio, Hören und Musikmachen; nicht nur Schönberg, sondern auch Schütz-Bach-Beethoven; nicht nur "Klassik", sondern auch Jazz und Rock (auch wenn letzteres Adorno nicht so gern forciert hätte). Ich entdecke in den letzten Jahren verstärkt wieder alte Schlagwörter wie "Musik als Lebenshilfe" oder solche von der "humanen Schule". Sie sind nicht ganz ungefährlich, wenn sie sich verabsolutieren sollten. Wenn jemand für die humane Schule eintritt, dann unterstütze ich ihn, aber nur dann, wenn er das "Humane" nicht als Tarnung verwendet, um damit Angst vor rationaler und intellektueller Bemühung um Musik zu kaschieren. Ich befürchte, das letztere liegt allzu sehr in der Luft. Adorno bleibt also in seinem alten Kampf für Musik als "Ernstfall" immer noch aktuell.


Erste Seite (1) Vorherige Seite (185)         Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 186 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften