- 118 -Wollermann, Tobias: Zur Musik in der "Drei Farben"-Trilogie von Krzysztof Kieslowski 
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Zusammenfassung

Zbigniew Preisners Musik zu Krzysztof Kies lowskis Drei Farben-Trilogie hat auf der einen Seite den Schein des Bekannten, auf der anderen Seite aber entstammen die Melodien seiner eigenen unverwechselbaren Tonsprache und zeugen von einem authentischen Stil. Der Zuschauer, der das Kino mit einer Melodie Preisners auf den Lippen verlässt, trägt mit diesen Tonfolgen die Quintessenz der Kies lowskischen Filme mit nach Hause: Wo Sprache endet, fängt Musik an. Preisners Tonsprache ist leicht verständlich, da er seine schlichten Melodien aus einem dem Zuschauer gut zugänglichen musikalischen Fundus schöpft.

An der Musik fallen zunächst die langgesponnenen melodischen Linien auf, die – vielfach unbegleitet – von einer Klarinette, einer Oboe oder einem Englisch-Horn »gesungen« werden. Preisners Musik strahlt eine große innere Ruhe aus, denn er nimmt sich innerhalb seiner melodischen Phrasen viel Zeit, um einzelne Klangfarben, Töne und Intervalle bis ins Letzte auszukosten. Hinzu kommen zahlreiche gliedernde Pausen, die den Solo-Instrumenten ein Ausklingen im stark verhallten Raum ermöglichen. Der lyrisch-melancholische Grundton kommt vor allem in der eher kammermusikalisch angelegten Musik zu Weiss zur Geltung. Ihm gegenüber steht der opulente chorsinfonische »Song for the Unification of Europe«, der in Blau zum Handlungsträger wird und so direkten Einfluss auf die Gesamtdramaturgie des Films nimmt.

Trotz des Einsatzes eines Tangos in Weiss und eines Boleros in Rot als musikalisch-rhythmische Grundsubstanz ist der zutiefst polnische bzw. slawische Ton in Preisners Musik nicht zu überhören. Dies liegt nicht nur an der oft verwendeten Zigeuner-Moll-Tonleiter – dem Inbegriff slawischer Musik – und der Bevorzugung eher dunkler Klangfarben, sondern auch an der Instrumentation sowie am Gestus der lyrischen Tonfolgen und ihrem sehnsüchtigen Auf- und Abschwingen.

Gerade die fragmentarische, episodenhafte Verwendung der Musik verweist auf ihre filmisch-funktionale Herkunft. Zugleich gibt sie Aufschluss über eine enge Verknüpfung von Akustik, Optik und Szenerie in der Gesamtdramaturgie der einzelnen Filme. Diese wurde in den Kapiteln 4.1, 4.2 und 4.3 nachgewiesen. Bei den Analysen hat sich herausgestellt, dass Preisners Musik vielschichtig angelegt ist. Sie wirkt zugleich auf der semantischen, psychologischen sowie syntaktischen Ebene:

Der Musik in Blau kommen besonders stark ausgeprägte semantische Funktionen zu, da sie die Dramaturgie als Kristallisationspunkt der Handlung maßgeblich bestimmt. Neben dieser semantisch-reflexiven Funktion drückt sie aber gleichzeitig auch Gefühlszustände und Stimmungen der Protagonisten aus, liefert eine geographische Deskription (semantisch-denotativ) und dient gleichzeitig zur Stimmungsuntermalung (semantisch-konnotativ). In allen drei Filmen werden die einzelnen Themen fast leitmotivartig in Bezug zu den Protagonisten und ihren jeweiligen Empfindungen gesetzt: Musik als Spiegel der Seele – ein akustisches Abbilden, die Verklanglichung von Gefühlszuständen.

Dementsprechend kommen der Musik gleichzeitig psychologische Funktionen zu. An dieser Stelle sei besonders auf die affirmative Wirkung hingewiesen, die beim Zuschauer die Glaubhaftigkeit der filmischen Realität im Sinne einer emotionalen Identifizierung bewirkt. Darüber hinaus löst die Musik als Reizmoment beim Zuschauer zunächst begriffslose Affekte aus, die dann von diesem auf die optisch konkreten Bilder projiziert und somit greifbar werden (affizierende Funktion).

Neben den genannten Funktionen wirkt die Musik ebenso auf der syntaktischen Ebene. Dies lässt den Musikeinsatz in den Filmen besonders artifiziell erscheinen. In fast jedem Take sind Musik und Bilder sehr kunstvoll geschnitten. Zum einen trennt die Musik gliedernd einzelne Einstellungen, Segmente oder Sequenzen, zum anderen werden diese durch sie miteinander verbunden. Es hat sich herausgestellt, dass die Musik sogar innerhalb einzelner Einstellungen solche syntaktischen Funktionen erfüllt. Ferner dient sie auch zur Spannungssteigerung oder setzt musikalische Interpunktionen. Ein solch exaktes Zusammenspiel der akustischen und visuellen Ebenen wird vor allem durch die bereits erwähnte phrasenhaft-melodische Struktur der Musik ermöglicht.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – drei Themen, drei Farben, drei unterschiedliche musikalische Grundsubstanzen: drei Filme, entstanden in einer französisch-polnisch-schweizerischen Co-Produktion. Durch die gemeinsame Arbeit an der Trilogie wurde ein Schritt auf dem Weg zur »Unification of Europe« getan. Dabei stellen die Ideale der Französischen Revolution ebenso die Eckpfeiler einer gesamteuropäischen Ordnung dar. Kies lowski demonstriert dem Zuschauer, dass es möglich ist, über die Grenzen der verschiedenen Kulturen und Filmtraditionen hinweg ein transparentes Ergebnis auf höchstem Niveau zu schaffen. Preisners Musik stellt in diesem thematischen Farbspektrum eine musikalische Konstante dar. Seine unverwechselbare Tonsprache ermöglicht dem Zuschauer ein vertrautes und zugleich individuelles Filmerlebnis. Preisner folgt konsequent der Idee der Trilogie: jedes Ideal der Französischen Revolution stellt ein Fundament aufklärerischen Gedankenguts dar. Doch nur das gleichberechtigte Zusammenwirken dieser Ideale garantiert ein gesellschaftliches und politisches Gleichgewicht. Preisner ordnet – Kies lowskis Idee folgend – jedem einzelnen Film ein eigenes musikalisches Thema zu. Zugleich schafft er durch die ihm eigene Tonsprache ein elementares Kontinuum, das alle drei Filme zu einer Einheit verschmelzen lässt. Damit löst Preisner die Idee der Trilogie auf der musikalischen Ebene vollständig ein.

Anhang A
Filmographien

A.1 Krzysztof Kies lowski

Die Filme werden in chronologischer Reihenfolge angegeben.1

1 Diese Filmographie ist im Wesentlichen aus (Stok1993, S. 237) übernommen. Sofern deutsche Titel der Filme bekannt sind, stammen sie aus Reichow (1979). Soweit bekannt bzw. vorhanden, werden zu jedem Film folgende Angaben gemacht: Filmkategorie, Drehbuch, Kamera, Musik, Produktion, Material und Filmdauer.
1966
The Tram
(TRAMWAJ)
Dokumentarfilm
Drehbuch: Krzysztof Kies lowski
Kamera: Zdzislaw Kaczmarek
Produktion: Filmschule Lodz
35mm schwarz/weiß
5min 45sec
The Office
(URZAD)
Dokumentarfilm
Drehbuch: Krzysztof Kies lowski
Kamera: Lechoslaw Trzesowski
Produktion: Filmschule Lodz
35mm schwarz/weiß
6min

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