- 96 -Wollermann, Tobias: Zur Musik in der "Drei Farben"-Trilogie von Krzysztof Kieslowski 
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Weitaus wichtiger erscheint aber die Funktion der Musik, den Protagonisten treffend zu charakterisieren und seine zwei unterschiedlichen Wesenszüge zu beschreiben. Krzysztof Piesiewicz berichtet über den Protagonisten: »Als wir das Buch zu Weiss schrieben, dachten wir uns, daß es vielleicht an der Zeit wäre, vom Wahnsinn unserer polnischen Realität zu erzählen. Und dazu dachten wir an Chaplin. Karol Karol (unser Charlie auf Polnisch) hat, hoffen wir, auch etwas von seiner Poesie. Wir dachten auch an Breughel und Fellini, denn es ist unmöglich, ohne Humor die Absurdität, die wir heute erleben, zu beschreiben. Die Polen sind unsagbar komisch, wenn sie auf einen Schlag fünfzig Jahre Kommunismus vergessen und von heute auf morgen Kapitalisten werden wollen. In diesem Licht muß man Karol Karol sehen ...«106

106 Piesiewicz, zit. nach dem Presseheft zu Weiss, herausgegeben vom Concorde Filmverleih, München

In diesem Sinn beschreibt auch die Musik treffend die Charakterzüge des larmoyanten und zugleich ironisch-komischen Karol Karol. Die larmoyante Seite des Protagonisten wird durch die melancholische Melodie dargestellt: einsam, verlassen, suchend ist Karol am Boden zerstört und steht zu Beginn des Films vor dem Nichts. Dies ändert sich jedoch, als er zurück nach Polen kommt und sich dort mit dubiosen Geschäften hocharbeitet. Hier setzt der Tango ein und repräsentiert seinen Aufstieg in satirisch-komischer Art und Weise. Die musikalische Form des Tango ist u.a. auch für das Handlungsschema repräsentativ: der Tango drückt, ähnlich einem Gedicht, romantische Sehnsucht durch formellen Zwang aus, er ist zugleich lyrisch, spielerisch und besonnen und begleitet in diesem Film Karols verwickelte Pläne, sich an Dominique zu rächen. Im argentinischen Tango hat der Mann die vollständige Kontrolle. Obwohl die mit einem wirbelnden Kleid angezogene Frau auf hohen Absätzen die auffälligen, interessanten, zum Teil erotischen Schritte macht, kann sie sich nur so weit weg bewegen, wie es die, den unteren Rückenteil ruhig, aber nachdrücklich kontrollierende Hand des Mannes erlaubt. Auf diese Art und Weise hat auch Karol zum Schluss Dominique in der Hand, wenn er seinen Plan ausführt. Allerdings schimmern bis zum Schluss immer wieder die wehmütig-melancholischen Seiten des Karol durch, gerade in den Momenten, in denen er sich direkt an Dominique erinnert, bis er zum Schluss gerührt das Resultat seiner Rache sieht. Im Abspann aber erklingt noch einmal der Tango. Auf diese Weise skizzieren die zwei unterschiedlichen Themen die zwei Charakterzüge des Karol.

Eine weitere Funktion der Musik klingt schon im oben erwähnten Zitat Preisners an: Preisner möchte mit seiner Musik den zutiefst polnischen Charakter des Films betonen. Deshalb hat er beim Komponieren viel auf folkloristische Musik seiner Heimat zurückgegriffen. Mehr als deutlich wird das z.B. durch die Verwendung der Zigeuner-Moll-Tonleiter, die geradezu charakteristisch für slawische Musik ist. Der eigentümliche Klangcharakter, der besonders in Verbindung mit einem Streichquintett und Holzbläsern an osteuropäische Tanzkapellen erinnert, entsteht besonders durch die hochalterierte Quarte der Leiter und die daraus resultierenden charakteristischen Intervalle in der Melodie. Auf diese Art und Weise stellt die Musik eine zum Handlungsort passende Atmospäre her. Sie repräsentiert die Zeit und vermittelt einen gesellschaftlichen Kontext.


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