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aus: Dieter Hildebrandt, Piano, piano!

Der Roman des Klaviers im 20. Jahrhundert


Dezember 2000

352 Seiten

Hardcover

DM 39,80 / ÖS 291,00* / SFR 38,30 / EURO 20,35

ISBN 3-446-19935-7

http://www.hanser.de/


Rubinstein fällt vom Stuhl


Als die "Titanic" in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 nach dem Zusammenstoß mit einem Eisberg bei Kap Race in der Nähe der Südspitze von Neufundland unterging, versanken neben 1490 Menschen auch drei Instrumente: der Flügel im Salon der ersten Klasse, ein Klavier in der zweiten und ein weiteres in der dritten. Die Marken sind, selbst für den Salon, nicht überliefert.

Das Klavier ist nämlich zum Luxusinstrument der frühen Traumschiffe des Jahrhunderts geworden und zugleich eine Art Sedativ. Es spielt, gerade auf der heiklen, oft stürmischen Atlantikpassage, eins vor: Sicherheit, Lässigkeit, entspannte Normalität. "Wir spielten, weil der Ozean so beängstigend groß war", heißt es bei Alessandro Baricco in seiner "Legende vom Ozeanpianisten". Denn: Wo ein Klavier erklingt, gibt es keine Gefahr, außer für Pianisten. Wo die Töne perlen, fürchtet man keinen Schiffbruch. Man ist nicht auf hoher See, man ist auf hohem Niveau.

Arthur Rubinstein hat seine erste Überfahrt nach Amerika, um die Jahreswende 1905/06, ausführlich beschrieben. In der Halle der relativ bescheidenen "Touraine", die gleichzeitig als Foyer, Lesesaal, Schreibzimmer und allgemeiner Aufenthaltsraum dient, steht ein Pleyel, also ein anspruchsvoller Flügel. Rubinstein erleidet das Schicksal der meisten Atlantikpassagiere, wenn ihr Schiff erst aus dem Schutz der Britischen Inseln aufs offene Meer hinauskommt: Er wird seekrank. Denn auch wenn kein Sturm herrscht, türmt sich hier der Wellengang auf, gerät der Dampfer ins Stampfen, Schlingern, gar Rollen, und die Passagiere merken zum erstenmal, daß sie sich auf einem Spielball befinden. Und Rubinstein, Sturm nur gewöhnt aus der Chopin-Etüde, gerät in einen Aufruhr der Elemente, erlebt eine der übelsten Passagen.

"Nach zwei schlaflosen, immer wieder von Übelkeit heimgesuchten Nächten hielt ich es in der schlechten Kajütenluft nicht mehr aus. Ich kleidete mich an, kämpfte mich mühsam bis zur Halle vor und wollte auf das Promenadendeck hinaustreten. Alle Türen waren verschlossen, es hieß: draußen ist es gefährlich. Also setzte ich mich ans Klavier. Es war schwierig, sich auf dem Hocker zu halten, doch das Spielen ging recht gut. Nach einer Weile machte ich eine herrliche Entdeckung: spielte ich ein Stück von starkem Rhythmus, so paßte sich meine Atmung diesem Rhythmus an und nicht mehr dem unregelmäßigen Stampfen des Schiffes, wodurch jeder prompt seekrank wird. Da weiteres Experimentieren die Richtigkeit meiner Entdeckung bestätigte, beschloß ich, in der Halle zu bleiben, um im Notfall den Flügel in Reichweite zu haben. Ein freundlicher Steward brachte mir mein Essen - er war Musikliebhaber ..."

Bei der Silvesterfeier an Bord passiert es dann. Ob es der Wellengang war oder der Champagner, dem der junge Pianist reichlich zuspricht: er fällt, am Flügel sitzend, vom Hocker. "Ich war nicht verletzt, doch der Kapitän befahl zwei Matrosen, meine Beine mit Liederriemen an den Hocker zu binden, der seinerseits mit dem Fußboden verschraubt war, wie auch der Flügel. Ich beendete das Konzert ohne weitere Zwischenfälle und genoß es, ›an meine Kunst gefesselt‹ zu sein." Daß diese Fesselung ihn nicht hindert, Nächte hindurch mit ausgebufften Partnern zu pokern und dabei über den Tisch gezogen zu werden, spricht sich noch vor der Ankunft der "Touraine" telegraphisch nach New York herum. "Junger Mann, hoffentlich spielen Sie besser Klavier als Poker!" - so empfängt ihn sein New Yorker Agent, ein Mr. Ulrich. Und die Reporter am Kai stellen, zumindest in der Erinnerung Rubinsteins, jene Fragen zwischen Sensationsgier und Imbezillität, die sich ein junger Künstler nur wünschen kann: "Wer waren Ihre Partner beim Poker? Sind Sie der Sohn von Anton Rubinstein? Zerreißen Ihnen bei jedem Konzert ein paar Klaviersaiten? Sind Sie Schüler von Paderewski?"

Aber so dicht ist der Pianistenverkehr auf der Nordatlantikroute, daß Arthur Rubinstein - der mit Anton Rubinstein nicht im mindesten verwandt ist - bei seiner Rückkehr keineswegs mehr Solo-Bewunderung erregen kann. Gleich am ersten Tag entdeckt er an Bord des Schiffes - es ist wieder-

um die "Touraine" - zwei berühmte Kollegen, den Franzosen Raoul Pugno und den Russen Joseph Lhévinne, der fast zeitgleich mit ihm in New York debütiert hatte. Die beiden bitten Rubinstein an ihren Tisch, und er genießt (schreibt er) die Gesellschaft des stämmigen, aber liebenswürdigen Franzosen ebenso wie die kindlich wirkende Sensibilität des dreißigjährigen Russen, der über seiner Glatze eine kunstvolle Lockenperücke trägt. Aber neben den drei Virtuosen hat die "Touraine" auch noch ein Pianistenopfer an Bord.

"Am zweiten Tag der Reise promenierte ich an Deck, um einem möglichen Anfall von Seekrankheit vorzubeugen. Ein Fremder in Umhang mit Barett schien mit derselben Absicht in entgegengesetzter Richtung zu wandeln. Plötzlich hielt er mich an und fragte: ›Sind Sie nicht der Pianist Rubinstein?‹

›Richtig‹, sagte ich und ging weiter, denn ich dachte im Moment nur an den Seegang.

Er ließ mich aber nicht in Ruhe. ›Wie finden Sie Pugno?‹ fragte er.

›Sehr gut‹, erwiderte ich.

›Und Lhévinne?‹

›Großartig.‹

›Und Paderewski?‹

›Hervorragend! Kolossal! Einzig!‹ sagte ich bekümmert, denn mir wurde übel.

›Und wie finden Sie Josef Hofmann?‹ beharrte der Mann. Mir riß die Geduld, schließlich war ich im Begriff seekrank zu werden, und ich verlor die Beherrschung. ›Hofmann! Hofmann muß verrückt sein, sonst würde er nicht mit einem häßlichen alten Weib und einem Haufen Kinder durchbrennen.‹

Darauf sagte der Mann ganz ruhig: ›Da haben Sie recht. Wie Sie mich hier sehen, bin ich nämlich der Gatte dieser Dame.‹ Man kann sich vorstellen, was ich für ein Gesicht machte."

Die drei Bord-Pianisten analysieren die amerikanische Musikszene, auf der sie fast gleichzeitig herumgereicht worden sind, ohne sich zu begegnen. "Wir werden von den amerikanischen Klavierfabrikanten als Aushängeschild engagiert, und da jeder von uns auf einem anderen Fabrikat spielt, halten sie uns sauber voneinander getrennt ... Ich habe einen Baldwin gespielt", sagte Pugno, "Lhévinne einen Steinway und Sie einen Knabe." Und Lhévinne bringt die Situation auf den Punkt: "Die Konkurrenz ist so scharf, daß wir wie Preisboxer eingesetzt werden, die sich für die Fabrikanten schlagen müssen."

Die Schiffahrtsgesellschaften können sich so sehr auf die Anwesenheit von Pianisten verlassen, daß ein Abschiedskonzert am Vorabend der Landung schon zur Tradition gehört. Nur ist bei dieser Passage die Verlegenheit groß: Wen von den drei Berühmtheiten soll man bitten, oder darf man alle drei? Aber der Pianistentisch entwirft in aller Kollegialität ein gemeinsames Programm, bei dem auch noch die mitreisenden Berühmtheiten von der Met berücksichtigt werden.

"Nach dem traditionellen Kapitänsessen spielte Pugno sehr elegant einen Walzer von Saint-Saëns und begleitete dann (den Tenor) Gilibert zu der Arie des Faust. Dem Alter nach folgte Lhévinne mit der schwierigen Paraphrase auf die ›Blaue Donau‹ von Schulz-Evler - er spielte brillant und als Zugabe ein Nocturno für die linke Hand allein von Skrjabin. Lhévinnes linke Hand war fabelhaft, um sie beneideten ihn alle Pianisten. Nachdem Madame Gilibert Micaelas Arie aus ›Carmen‹ gesungen hatte, legte ich den Mephistowalzer von Liszt hin, und zum Schluß sangen beide Gilberts, von mir begleitet, ein Duett aus einer Operette von Messager ..." Der Ertrag dieses Benefiz-Konzerts, übrigens, war für die Kinder ertrunkener Seeleute gedacht.





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