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Alfred Brendel

Ausgerechnet ich. Gespräche mit Martin Meyer


Februar 2001

360 Seiten

Hardcover

DM 46,00 / ÖS 336,00* / SFR 42,20 / EURO 23,52

ISBN 3-446-20001-0

http://www.hanser.de/


Sie wurden, wenn man überspitzt formulieren darf, vom frühen, eigenbrötlerisch versunkenen Musiker in Graz und Wien nun plötzlich zum Familienvater in London. Was bewog Sie dazu, von Wien nach England zu übersiedeln?

Ich habe da eine ganz kurze Antwort. Wenn man niest, sagt man in Wien: "Hatschi!" In England sagt man gedämpft: "Häbdschu". Das ist menschenfreundlicher. Im Ernst: es gab verschiedene Gründe. Erst einmal wollte ich immer schon in einer möglichst kosmopolitischen Stadt leben. Ich bin ein Städter. Ich hatte seit meinem fünften Jahr im Sommer unter Heuschnupfen zu leiden, was mich davon abgehalten hat, ins Grüne zu gehen. Das ist in den letzten Jahren besser geworden, auch weil es bessere Medikamente gibt, die einen nicht mehr müde machen. Ich bin von Graz nach Wien gegangen. Wien war in den ersten zehn Jahren nach dem Krieg sehr aufregend, weil man so vieles neu anfangen mußte. Die Leute hatten wenig und waren dafür um so angeregter in dem, was sie künstlerisch machen wollten. Das "Großdeutsche Reich" hatte so viel Wesentliches in der Musik und in der bildenden Kunst abgesperrt, weggedrängt. Das kam nun wieder zum Vorschein.

Dann begann Wien für meinen Geschmack etwas zu stagnieren und provinziell zu sein. Das hat sich in letzter Zeit wie-der geändert durch die Öffnung nach dem Osten und aus vielen anderen Gründen. Aber Wien schien mir damals eine Provinzstadt selbstzufriedener Art, die in der Vergangenheit lebte. Ich war schon öfter in London gewesen, konnte ganz gut Englisch, hatte dort Freunde und lernte dort auch meine jetzige Frau kennen, die bereits in London lebte. London war auch einen Schritt näher nach Amerika, obwohl ich schon früher jedes Jahr mindestens einmal dorthin gereist war. Außerdem redet man in England, wenn man spricht oder schreibt, möglichst ohne Komplikationen. Ich liebe einen Satz von Einstein: Alles soll so einfach wie möglich gemacht werden, aber nicht einfacher. Das versteht man hier, so glaube ich, besser als auf dem Kontinent, selbst in Universitätskreisen. Dazu kommen die demokratische Tradition, also die Jahrhunderte parlamentarischer Erfahrung, und die empirische Philosophie, die mich nun wieder als in Österreich ansässig Gewesenen heimatlicher berührte als der deutsche Idealismus.

War Wien für Sie in den fünfziger und frühen sechziger Jahren ein intellektuelles und vielleicht auch psychisches Zentrum?

Als ich aus Graz kam, war der Schritt nach Wien zunächst der Schritt in eine größere Stadt, eine Stadt mit einer großen Vergangenheit, aber auch eine Stadt in einem neuen Aufbruch unmittelbar nach dem Krieg. Wir hatten wenig Geld, wir hatten wenig zu heizen, aber es war sehr viel Elektrizität in der Luft. Ich fand bald heraus, daß Wien eine gute Stadt war, um darin im Protest zu leben. Ich sage damit nichts besonders Neues, weil auch die intelligenten Wiener das eigentlich immer getan haben. Es gibt genügend Aussprüche, die das bestätigen. Man muß nicht gleich in endlose Tiraden verfallen wie Thomas Bernhard; man kann das auch aphoristisch sagen. Ich denke an Albert Ehrenstein, den Dichter, der noch vor dem Ersten Weltkrieg in einem Gedicht eine Zeile schrieb: "Wien, Du mürbes Goderl der Welt." Hübsch, nicht wahr? Nach dem Krieg kam Polgar und redete vom "fidelen Grab an der Donau". Oder nehmen Sie Karl Kraus' Wort von der Versuchsstation des Weltuntergangs, und Musil, der ungefähr sagte, in Wien sei der Menschenhaß zum Gemeinschaftsgefühl gesteigert. Nach dem Krieg replizierte Jandl mit der Schlußzeile eines Gedichts: "Wien, Du mein Aus und Schluß." Peter Handke schließlich nannte Österreich "das Fette, an dem ich würge". Ich hoffe, die intelligenten Wiener mit diesen Zitaten nicht zu sehr zu überraschen.

Zumal Sie selbst ja nicht so weit gegangen wären in Ihrer Wien-Reserviertheit.

Nein. Ich würde mich nie als eingefleischten Wiener bezeichnen. Deswegen muß man damit rechnen, daß einem die gebürtigen Wiener solche Äußerungen ankreiden. Aber sei's drum! Es war eine sehr fruchtbare Zeit. Ich denke mit Dankbarkeit daran zurück, aber auch mit Dankbarkeit daran, daß ich nachher nach London zog und viel später erst von den Wienern, nun sozusagen hauptamtlich, in die Arme geschlossen wurde - was mich besonders von den Wiener Philharmonikern herzlich freute: durch die Ehrenmitgliedschaft, die sie mir einstimmig zu Füßen gelegt haben. Wenn ein Orchester etwas einstimmig tut, dann kann man nur gerührt Dankeschön sagen.

Gibt es einen Staatsbürger Alfred Brendel? Oder ist er eher Weltbürger?

Ich würde sofort sagen, Weltbürger - soweit das überhaupt möglich ist. Aber ich will auch nicht unverantwortlich scheinen. Ich will überhaupt nicht, daß man der Verantwortung aus dem Weg geht. So sehr ich selbst individualistisch geblieben bin, so sehr beklage ich die Sucht nach Selbstverwirklichung, die um sich gegriffen hat und die darauf hinausläuft, daß man auf andere Leute kaum mehr Rücksicht nimmt.

In England wurden Sie vielfacher Familienvater. Wie ließ sich das mit dem anstrengenden Beruf des Konzertpianisten und Interpreten, der immer wieder an einem neuen Repertoire arbeitet, vereinbaren?

Ich hatte das große Glück, eine Frau gefunden zu haben, die eine geborene Mutter ist, für die dies die Erfüllung des Lebens darstellt und die es wunderbar verstanden hat, die Kinder aufzuziehen, auch wenn ich oft nicht da war. Es ist ja zum Glück nicht so, daß die ständige Anwesenheit das beste Verhältnis garantiert. Bei mir war es jedenfalls so, daß ich nur sporadisch in Erscheinung trat, dann aber, wie ich hoffe, nicht als Unmensch.

Eine Frage nach den Tempi, die immer auch relational zu verstehen sind, im Gesamtgeschehen eines Satzes, eines Stücks. Sie bevorzugen, wenn ich Ihre Schallplatteneinspielungen und Konzerte überblicke, ein Tempo etwa in der Mitte zwischen extremer Verknappung, wie wir sie oft von Gould kennen, und manchen riesigen Stauungen, wie sie Arrau und Richter realisiert haben. Wie stellt sich die Frage nach dem richtigen Tempo in der Musik?

Ich beginne an zwei meiner großen Kollegen aus der Vergangenheit zu denken. Für mich war Schnabel ein Spieler der Tempo-Extreme, meistenteils. Er trug seinen Schülern auf, ein langsames Tempo langsamer zu spielen, als man erwartet, und analog ein schnelles. Das ging in die Richtung eines Überraschungseffekts und ist mir deswegen nicht angenehm. Für mich grenzt das an Sport. Auf der andern Seite war Kempff jemand, der eigentlich die Extreme immer mied, der mäßig schnelle und mäßig langsame Tempi spielte. Ich kann mich bei ihm an kein Davonlaufen erinnern. Das war ein seltener Vorzug. Kempff ist nie geeilt. Er hat aber auch nie geschleppt. Das sind zwei extreme Typen von Pianisten.

Ich selber scheue nicht grundsätzlich davor zurück, ins Extrem zu gehen. Im ersten Beethoven-Konzert gibt es wenige, die den ersten Satz so schnell spielen wie ich. Ich habe manche meiner Tempi mit der Zeit verändert. Es gibt langsame Sätze etwa in den Klavierkonzerten Beethovens, die man üblicherweise sehr langsam spielte. Doch sollte man sie viel flüssiger nehmen, weil Beethoven dieses Fließende schon

in seinen Tempobezeichnungen verlangt hat und weil ich heute finde, daß es den Stücken gemäß ist. Wenn man mit vielen Dirigenten Beethovens G-Dur-Konzert gespielt hat, dann weiß man, daß die meisten gewohnt waren, das Andante wie ein Maestoso zu dirigieren. Es hat ziemlich lange gedauert und ist manchmal jetzt noch schwierig, den Dirigenten begreiflich zu machen, daß es ein Andante con moto ist.

Andere Beispiele?

Auch die Orchester sind an bestimmte Ausführungsweisen gewöhnt, etwa im zweiten Satz des Es-Dur-Konzerts von Beethoven - das ist ein "Adagio poco mosso" und "alla breve", was gewöhnlich ignoriert wird, auch verändert wurde in der alten Gesamtausgabe. Doch gibt es dazu Czernys Kommentar, der Satz dürfe nicht schleppend gehen. Trotzdem wurde er sehr langsam gespielt, wenn auch nicht notwendigerweise schleppend. Ich erinnere mich an Aufführungen Furtwänglers, der den Beginn dieses Satzes in der herrlichsten Weise dirigierte; nur bekam er dadurch einen anderen Charakter. Nun verlangt das Stück jedoch nicht eine fast religiöse Feierlichkeit, sondern eine sich fortbewegende Süße, ein leises Entzücken. Das kann man dem Orchester mit etwas Mühe beibringen, wenn ein Dirigent da ist, der Überredungskünste und die nötige Probenzeit besitzt, um dem Orchester zu sagen, was es nicht mehr machen soll. In meinen Aufnahmen mit Simon Rattle hat solche Arbeit Früchte getragen.


Geht Ihre Lebensbiographie des Menschen unter Menschen gut zusammen mit der künstlerischen Biographie?

Obwohl ich kein ausgesprochen sonniger Mensch bin, hatte ich insgesamt Glück mit meiner Konstitution, mit den Menschen, die mir nahestehen, mit der Möglichkeit, sowohl zu spielen als auch zu schreiben als auch zu schauen. Ich selbst bin ein relativ harmonischer Skeptiker; der Zweifel ist für mich nicht ein Werkzeug der Selbstzerfleischung, sondern ein Zeichen geistiger Gesundheit. Goethe schreibt in einem Brief: "Lassen Sie uns, lieber Graf Sternberg, das Positive nicht zu sehr verehren, sondern lassen Sie es uns ironisch behandeln und ihm dadurch den Charakter des Problematischen erhalten." Dafür möchte ich Goethe die Hände küssen.

Wie gelingt es dem Künstler immer wieder, in die Sphäre seiner Arbeit, seines interpretatorischen Vollzugs einzutreten, um umgekehrt sich auch wieder von ihr zu lösen?

Man entwickelt da eine gewisse Virtuosität. Mir hat das Klavierspielen, auch das Üben, das Arbeiten, immer Vergnügen gemacht. Es war mir nie eine Last. Ich kenne die therapeutische Wirkung der Arbeit und schätze mich sehr glücklich, etwas machen zu dürfen, was mich ständig bereichert, mich mit neuen Energien erfüllt. Gelangweilt habe ich mich dabei nie, auch im "Leben" nicht.





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