ITALIEN

Ich wurde von Signor Roberti, dem freundlichen und lebhaften Musik-Inspektor der Turiner
Elementarschulen, gewarnt: meine Erwartungen an die italienische volkstümliche Musik würden
enttäuscht werden, sollten sie zu groß sein. Die Reputation Italiens als "Land des Gesangs" sei
irreführend, sagte er. Die stilistisch beklagenswert verdorbene Oper ist noch das Idol der
Menschen, aber höherklassige Orchester- und Chormusik gedeiht nur schwach. Das Volk wird
sich gerade erst des Wertes von Erziehung bewußt. Signor Roberti war früher
Gesangsinspektor in Florenz, aber dort verbannte der Stadtrat den Gesang in einem Anfall von
Haushaltseinsparungen ganz aus dem Schul-Curriculum. Die Turiner Behörden sind
aufgeklärter, aber die in den dortigen Schulen gegenwärtig durchgeführte Arbeit ist bescheiden.

Lehrerinnen-Seminar.

Am zweiten Tag nach meiner Ankunft in Turin nahm mich Signor Roberti zu dem Lehrerinnen-
Seminar mit, in dem er unterrichtet. Die Studentinnen des ersten Jahrgangs, 60 an der Zahl, im
Alter von sechzehn bis achtzehn, waren zur wöchentlichen Gesangstunde versammelt. Der
Lehrer rief zuerst verschiedene Leitertöne in C auf (benutzt wurden die Sol-fa Silben), auf die
die Klasse singend antwortete. Dann kamen einstimmige Solfeggios aus dem Buch, - kurze
Melodien, zum Zwecke der Einführung bestimmter Intervalle geschrieben. Die Studentinnen
waren rhythmisch unsicher. Chromatische Töne machten Mühe. Das absolute do, das immer
benutzt wurde, verführt unaufmerksame Schüler dazu, fälschlich chromatische Töne zu singen,
für die es keine besondere Silbe gibt: