- 108 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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ne besondere dramaturgische Stellung zuteil, die dieser freilich später durch den Verrat annimmt: »The film attends to the daily routine of school life much the way Julien does, without noticing the things that will seem important only later, including the presence of the much despised Joseph.«262
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Ebda.

Des Weiteren gestaltet Malle die Personen im Film keinesfalls plakativ und eindimensional. Weder ist Pater Jean uneingeschränkt positiv besetzt (gegenüber der christlichen Haltung, die jüdischen Schüler zu verstecken, steht das Verweigern der Hostie für Jean und die harte Bestrafung für Joseph), noch steht Joseph als gemeiner Verräter, sondern vielmehr als Opfer dar: Er leidet unter der latent alkoholisierten und tyrannischen Köchin und den überheblichen Schülern aus reichem Hause, die ihn nur ausnutzen wollen. Durch diese Vermeidung der Stereotypisierung erscheint Joseph als besonders tragische Figur: Er ist sich der Dimension des Verrats nicht bewusst und ähnelt dadurch dem Protagonisten des früheren Films Lacombe Lucien. Gleichzeitig vermeidet der Regisseur eine zu einfache Emotionalisierung und Lenkung des Zuschauers.

Louis Malle verzichtet auf eine direkte Gewaltdarstellung seitens der Gestapo-Figuren.263

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»Je ne suis même pas celui qui montre la violence car je crois qui je l’ai très peu filmée. [. . . ] Je préfère suggérer, ce qui peut d’ailleurs créer une tension très forte. Par exemple dans Au revoir les enfants, je n’ai finalement pas retenu le souvenir pourtant précis du type de la gestapo qui avait giflé un élève dans la cour. J’ai tourné la scène mais je ne l’ai pas montée parce que j’ai trouvé que tout d’un coup ça libérait la tension chez le spectateur deux minutes avant la fin. C’était une erreur dramaturgique mais aussi psychologique: il aurait été presque rassurant de montrer cet Allemand brutal.«, zit. n. Prédal (1989), S. 173 (»Ich bin keiner, der Gewalt zeigt, da ich glaube, sie sehr wenig gefilmt zu haben. [. . . ] Ich ziehe es vor, sie anzudeuten, was mitunter eine sehr starke Spannung hervorrufen kann. In Au revoir les enfants beispielsweise hatte ich die Erinnerung an den Gestapo-Typen, der einen Schüler im Hof ohrfeigte. Ich habe diese Szene gedreht, aber nicht montiert, da ich merkte, wie es die Spannung beim Zuschauer zwei Minuten vor Schluss plötzlich löste. Es war ein dramaturgischer aber auch psychologischer Fehler: Es wäre eine Bestätigung gewesen, diesen Deutschen brutal zu zeigen.«)
Vielmehr betont er die Grausamkeit und kalte Präzision der deutschen Such- und Vernichtungsmaschinerie durch die korrekt-kühle Haltung der Soldaten, die sich an die Regeln und die Disziplin halten. Die Soldaten, die die beiden Jungen nach dem Spiel im Wald auf der Straße auflesen, verhalten sich äußerst korrekt und nett, so dass Malle das Bild des tyrannisch-mordenden deutschen Soldaten (jedenfalls äußerlich) vermeidet. Somit lässt Malle den Zuschauer sich sein eigenes Bild erstellen, obwohl die Thematik und die dargestellte Ungerechtigkeit eigentlich nur eine Betrachtungsweise zulassen.264
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Vgl. Prédal (1989), S. 160: »[. . . ] Malle laisse le public face à sa propre conscience.« (»[. . . ] Malle lässt die Zuschauer mit ihrem eigenen Gewissen allein.«)

Auf musikalischer Ebene stellt sich die Frage, ob und inwieweit Malle die ›neutrale‹ und unspektakuläre Darstellung der Bildebene fortführt und welche Funktionen die Musik innehat.


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