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  Die Musik im Film

»Schreiben über Schubert ist eigentlich ein Unding; Schubert sollte nicht zerredet, sondern gespielt und empfunden werden.«265

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Wolters, Klaus: Handbuch der Klavierliteratur zu zwei Händen. 4. Auflage. Zürich/Mainz: Atlantis 1994, S. 322


Die Musikdramaturgie von Au revoir les enfants zeichnet sich auf den ersten Blick durch Sparsamkeit aus. Malle montiert insgesamt 785 Sekunden Musik (nicht hinzugezählt wurden die an mehreren Stellen außerhalb des Blickfeldes erklingenden liturgischen Gesänge, deren Einsatz und Ende unklar zu bestimmen sind), was bei einer Länge von ca. 100 Minuten einen prozentualen Anteil von etwa 12 % ausmacht. Die dramaturgisch im Off eingesetzten Takes (Takes 1, 6–8, 14) betragen sogar nur 3,4 % der Gesamtlänge. Es wird hier rein statistisch deutlich, wie behutsam Malle mit der Musik umgeht, zumal viele der Takes der akustischen Darstellung des kirchlichen Internats dienen. Dieses ist der Fall bei den Takes 3 und 11, die die Messe und den Musikunterricht der Kinder musikalisch untermalen.

Als zentrales Stück der Musikdramaturgie fungiert das Moment musical As-dur op. 94 D 780, Nr. 2 von Franz Schubert. Es bildet die musikalische Bogenform (Verwendung in Vor- und Abspann) und wird auch im Film an verschiedenen Stellen (auch im Off) zitiert. Im Folgenden wird zu untersuchen sein, wie Malle das Stück beschriftet und welche seiner atmosphärischen Qualitäten er nutzt.

Bereits in Segment 1 montiert Malle den A-Teil des Stücks (Takte 1–8). Julien verabschiedet sich schweren Herzens von seiner Mutter am Bahnhof und fährt mit den anderen Kindern wieder ins Internat zurück. Bei der letzten Umarmung setzt das Stück ein und erklingt auch noch im folgenden Segment, welches Julien an der Fensterscheibe des fahrenden Zuges zeigt. Die atmosphärische Korrespondenz zwischen Bildern und Musik liegt im melancholischen Gestus des Moment musical. Sowohl Harmonik (in den ersten Takten nur Tonika und Dominante), Melodik (»kreisendes Thema«)266

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Schmidt, Hans-Christian: »Von der Redseligkeit zur Lakonie: Tendenzen einer Geschichte der Filmmusik«. In: Chigiana. Rassegna annuale di studi musicologici 42 (1990). Florenz: Olschki 1992, S. 235–244, hier S. 241
als auch Rhythmik (wiederkehrendes Stocken auf den Dreiviertelnoten) sind von einer gewissen Entwicklungslosigkeit geprägt. Die Musik scheint zu stehen, sie wird nicht fortentwickelt. Sie entspricht der Stimmungslage Juliens, seiner Einsamkeit, da er von der Mutter getrennt wurde. Im folgenden Segment ist bemerkenswert, dass Malle die Musik bereits nach acht Takten abbrechen lässt, obwohl der Vorspann noch weiterläuft. Hier wird zum ersten Mal die sparsame Verwendung musikalischer Mittel deutlich: Malle deutet nur an, skizziert. Gleichzeitig setzt er ein Vorzeichen für die Ästhetik der Musikdramaturgie des Films. Er überwältigt den Zuschauer jedoch nicht. Die Takte 1–8 sind ein Ausschnitt des A-Teils des Stücks. Dieser Teil erklingt erst wieder am Ende des Films, wenn Julien sieht, wie Jean von den deutschen Soldaten abgeführt wird. Auf diese Stelle wird an späterer Stelle noch detaillierter einzugehen sein; thema-

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