- 219 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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»Die Türen der Lokale waren von Neujahr bis Silvester ausgehängt. Hunderte von Männern zogen Tag und Nacht durch die Straßen. Die Flittchen standen in ihren Kleinmädchen-Kleidern unter der Tür und sangen den Blues [...] Man konnte damals so viel Rauschgift kaufen, wie man wollte. Man verlangte einfach in den Drugstores danach und man bekam es. Es gab buchstäblich alles in Storyville: düstere Kaschemmen, wo Diebesfinger in eines Kerls Kleider krochen; winzige Hütten, in denen für ein Bett gerade Platz genug war, und die man für fünf Dollar am Tag mieten konnte; billige Tingeltangelbuden, wo man für ein Eintrittsgeld von einem halben bis zu einem Dollar Nackttänze und Zirkusnummern vorgesetzt bekam. Natürlich gab es auch feudale, mit teuren Möbeln und Gemälden bestückte Bordelle, darunter drei mit Spiegelsalons [...] In diesen Häusern arbeiteten die besten Pianisten.«591

591
Morton, Jelly Roll/Lomax, Alan: Dr. Jazz. Eine Autobiographie. Hamburg/Zürich: Luchterhand 1992, S. 58 f.

Zweifellos genoss die Musik in Storyville einen hohen Stellenwert; in den Cabarets, Tanzlokalen und Bordellen nahm sie einen wichtigen Platz ein. Dennoch wird laut Jost die Bedeutung des Viertels für die Entwicklung des Jazz erheblich überschätzt.592

592
Jost (1982), S. 36
Die wenigsten Häuser hatten eine fest engagierte Band, oftmals spielte ein Pianist oder lediglich ein mechanisches Klavier. Man bevorzugte eine Musik, »die sich im Hintergrund hielt, die animierte – wozu auch immer –, aber unaufdringlich blieb«.593
593
Ebda.
Somit erschienen laute, improvisierende Jazzensembles als eher ungeeignet für derartige Orte. Die Pianisten der besseren Häuser, ›Professoren‹ genannt, waren im damaligen Musikgeschäft Spitzenverdiener. Sie lebten im Wesentlichen von Trinkgeldern und verdienten zwischen $ 90–1000 pro Woche (zum Vergleich: ein Fabrikarbeiter verdiente durchschnittlich $ 9). Durch den damit verbundenen relativen Reichtum und einer exzessiven Lebensweise, wie sie Pianisten wie Jelly Roll Morton und Tony Jackson führten, entwickelten sich manche ›Professoren‹ zu Außenseitern und entfremdeten sich von ihrer ursprünglichen sozialen Schicht.

Nachdem Storyville geschlossen wurde, orientierten sich die Jazz-Musiker nach Chicago. Dennoch ist es falsch anzunehmen, dass die Schließung die unmittelbare Arbeitslosigkeit aller Jazz-Musiker in New Orleans bewirkte, wie es in einer Legende gern erzählt wird. Abgesehen davon, dass die wenigsten dieser Musiker in Storyville arbeiteten, hatte der Niedergang des Viertels bereits vorher begonnen, da sich die Zahl der Prostituierten im Jahre 1910 schon um mehr als die Hälfte verringert hatte. Ein weit wichtigerer Grund für die Orientierung in Richtung Norden war Chicagos wirtschaftlicher Aufschwung und der damit verbundene Bedarf an Arbeitsplätzen, der im Zusammenhang mit der Kriegsindustrie des Ersten Weltkrieges stand.

Wie oben bereits angedeutet, war die Musik in den Bordellen eher dezent als von einer expressiven Solistik bestimmt. Das Repertoire der Pianisten-Professoren bestand vornehmlich aus Ragtimes und Balladen. Tony Palmer schreibt:

»Eine seiner [des Pianisten] Aufgaben bestand darin, die beim Publikum äußerst beliebten Balladen und ›Parodien‹ (eindeutige Texte zu bekannten Melodien) zu begleiten. Sex in allen seinen Variationen war das Hauptthema


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