sangen.
Anschließend fällt im Film ein Schuss – ein Kennzeichen dafür, dass bei aller
Gemütlichkeit auch Luxus-Bordelle kein ungefährlicher Ort waren. Ein weiteres
Gesangsstück ist der von Jelly Roll Morton komponierte Winin‘ Boy Blues
(Take 13);601
›Wining Boy‹ war offenbar der Spitzname Jelly Roll Mortons: »Und just bei Hilma Burt
bekam ich meinen neuen Spitznamen: Wining Boy, Weinfalter! Wenn das Lokal geschlossen
wurde, schüttete ich jeweils den Inhalt halbleerer Champagnerflaschen zusammen und füllte
mit der Mischung eine neue Flasche. Dieses feine Getränk verhalf mir zu meinem Spitznamen,
über den ich einen populären Song schrieb.« (Morton/Lomax (1992), S. 57). Dieser Name
war jedoch lediglich ein Ersatz für den Namen Winding Boy, dessen Bedeutung etwas anderes
meinte. Johnny St. Cyr: »Winding Boy ist ein bißchen vulgär. Wie soll ich es erklären?
Ein Winding Boy ist ein Kerl, der in Sachen Sexliebe etwas auf der Gitarre hat. Sehen Sie,
Jelly führte in dieser Beziehung ein hektisches Leben, wie übrigens die meisten Burschen
im Distrikt. Sie waren sowieso alle irgendwie halbe Zuhälter . . . Jellys Winding-Boy-Song
war seinerzeit sehr populär.« (zit. nach Morton/Lomax (1992), S. 261). Hier zeigt sich der
anzügliche Charakter vieler im Bordell vorgetragener Lieder, die die Gäste animieren sollten.
|
sowohl dieses wie auch das nächste Stück, der Buddy Bolden’s Blues (Take 14)
vermitteln die schwere, alkoholgeschwängerte und lässig-laszive Stimmung dieser späten
Stunde im Bordell. Claude spielt mit gedämpfter Lautstärke, während manche Freier
bereits auf den Plüschsofas schlafen oder sich durch miteinander tanzende Prostituierte
stimulieren. Bellocq und Violet beobachten die Szenerie.
In diesen charakteristischen Ausschnitten wird deutlich, dass die Musik bzw. der
Pianist zum unentbehrlichen Interieur des Etablissements gehört. Genauso wie die
schweren Teppiche und Gardinen, die Gemälde an den Wänden, die Plüschsofas und die
Prostituierten bildet auch die Klaviermusik Bestandteil des Bordells. Sie ist mit Ort und
Zeit untrennbar verknüpft.
Zu besonderen Anlässen wurde in den Bordellen auch ein Ensemble engagiert. Was Jost
anspricht,602
Vgl. Jost (1982), S. 36: »[. . . ] in anspruchsvollen Etablissements spielte ein Professor
[. . . ] oder zu besonderen Anlässen ein Trio, bestehend etwa aus Violine, Mandoline und
Kontrabaß.«
|
bestätigt sich im Film an jenem Abend, an dem Violets Jungfräulichkeit versteigert
wird. Bereits zum Dinner, welches Mme Nell für ihre geladenen Gäste veranstaltet,
erklingt der Rag Swipesy (Take 18), wobei für den Filmbetrachter zu diesem Zeitpunkt
noch nicht klar ist, ob es sich um Musik im On handelt. Die Kapelle wird erst sichtbar,
als Violet wie eine Prinzessin auf einer Trage hereingebracht wird. Die Band spielt nun
die Ballade Moonlight Bay (Takes 19/20); es scheint sich um eine mindestens fünfköpfige
Besetzung (Trompete, Klarinette, Violine, Banjo, Kontrabass) zu handeln (von denen
nur vereinzelt Musiker im Bild zu sehen sind) – ein weiteres Indiz für den Wohlstand
dieses Etablissements.
In manchen Takes spielt Claude für sich Klavier; er scheint zu üben oder sich die Zeit
zu vertreiben. Diese Takes unterstreichen seine Rolle und seinen Status im Bordell. In
Take 16 übt er den schwierigen King Porter Stomp, während Bellocq Aufnahmen
von Hattie macht. Es ist nachmittags und es herrscht eine sehr entspannte
Atmosphäre. Diese Szene beschreibt den Alltag der Prostituierten, die sich die Zeit mit
Schönheitspflege oder anderen Dingen vertreiben, bis es Abend wird und die Kundschaft
kommt. Der Pianist gehört wie die Prostituierten zur großen ›Familie‹ der Mme Nell,
auch er nimmt am täglichen Leben der Belegschaft teil. Dennoch bleibt bei aller Nähe
und Vertrautheit der Rassenunterschied konstant
|