- 222 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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sangen. Anschließend fällt im Film ein Schuss – ein Kennzeichen dafür, dass bei aller Gemütlichkeit auch Luxus-Bordelle kein ungefährlicher Ort waren. Ein weiteres Gesangsstück ist der von Jelly Roll Morton komponierte Winin‘ Boy Blues (Take 13);601
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›Wining Boy‹ war offenbar der Spitzname Jelly Roll Mortons: »Und just bei Hilma Burt bekam ich meinen neuen Spitznamen: Wining Boy, Weinfalter! Wenn das Lokal geschlossen wurde, schüttete ich jeweils den Inhalt halbleerer Champagnerflaschen zusammen und füllte mit der Mischung eine neue Flasche. Dieses feine Getränk verhalf mir zu meinem Spitznamen, über den ich einen populären Song schrieb.« (Morton/Lomax (1992), S. 57). Dieser Name war jedoch lediglich ein Ersatz für den Namen Winding Boy, dessen Bedeutung etwas anderes meinte. Johnny St. Cyr: »Winding Boy ist ein bißchen vulgär. Wie soll ich es erklären? Ein Winding Boy ist ein Kerl, der in Sachen Sexliebe etwas auf der Gitarre hat. Sehen Sie, Jelly führte in dieser Beziehung ein hektisches Leben, wie übrigens die meisten Burschen im Distrikt. Sie waren sowieso alle irgendwie halbe Zuhälter . . . Jellys Winding-Boy-Song war seinerzeit sehr populär.« (zit. nach Morton/Lomax (1992), S. 261). Hier zeigt sich der anzügliche Charakter vieler im Bordell vorgetragener Lieder, die die Gäste animieren sollten.
sowohl dieses wie auch das nächste Stück, der Buddy Bolden’s Blues (Take 14) vermitteln die schwere, alkoholgeschwängerte und lässig-laszive Stimmung dieser späten Stunde im Bordell. Claude spielt mit gedämpfter Lautstärke, während manche Freier bereits auf den Plüschsofas schlafen oder sich durch miteinander tanzende Prostituierte stimulieren. Bellocq und Violet beobachten die Szenerie.

In diesen charakteristischen Ausschnitten wird deutlich, dass die Musik bzw. der Pianist zum unentbehrlichen Interieur des Etablissements gehört. Genauso wie die schweren Teppiche und Gardinen, die Gemälde an den Wänden, die Plüschsofas und die Prostituierten bildet auch die Klaviermusik Bestandteil des Bordells. Sie ist mit Ort und Zeit untrennbar verknüpft.

Zu besonderen Anlässen wurde in den Bordellen auch ein Ensemble engagiert. Was Jost anspricht,602

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Vgl. Jost (1982), S. 36: »[. . . ] in anspruchsvollen Etablissements spielte ein Professor [. . . ] oder zu besonderen Anlässen ein Trio, bestehend etwa aus Violine, Mandoline und Kontrabaß.«
bestätigt sich im Film an jenem Abend, an dem Violets Jungfräulichkeit versteigert wird. Bereits zum Dinner, welches Mme Nell für ihre geladenen Gäste veranstaltet, erklingt der Rag Swipesy (Take 18), wobei für den Filmbetrachter zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar ist, ob es sich um Musik im On handelt. Die Kapelle wird erst sichtbar, als Violet wie eine Prinzessin auf einer Trage hereingebracht wird. Die Band spielt nun die Ballade Moonlight Bay (Takes 19/20); es scheint sich um eine mindestens fünfköpfige Besetzung (Trompete, Klarinette, Violine, Banjo, Kontrabass) zu handeln (von denen nur vereinzelt Musiker im Bild zu sehen sind) – ein weiteres Indiz für den Wohlstand dieses Etablissements.

In manchen Takes spielt Claude für sich Klavier; er scheint zu üben oder sich die Zeit zu vertreiben. Diese Takes unterstreichen seine Rolle und seinen Status im Bordell. In Take 16 übt er den schwierigen King Porter Stomp, während Bellocq Aufnahmen von Hattie macht. Es ist nachmittags und es herrscht eine sehr entspannte Atmosphäre. Diese Szene beschreibt den Alltag der Prostituierten, die sich die Zeit mit Schönheitspflege oder anderen Dingen vertreiben, bis es Abend wird und die Kundschaft kommt. Der Pianist gehört wie die Prostituierten zur großen ›Familie‹ der Mme Nell, auch er nimmt am täglichen Leben der Belegschaft teil. Dennoch bleibt bei aller Nähe und Vertrautheit der Rassenunterschied konstant


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