Die Musik scheint einen Ritus zu begleiten, den Sally allabendlich vollzieht (vgl.
Takes 1 und 16). Nach erledigter Arbeit an der Austern-Bar des Kasinos reibt
sie sich am heimischen Waschbecken mit Zitronen ein, die sie vorher frisch
schneidet. Der Grund dieser bei warmen Dämmerlicht wie eine feierliche Handlung
anmutenden Tätigkeit ist banal: Sie versucht mit dieser Reinigung den Fischgeruch zu
überdecken, der ihr aufgrund ihrer Arbeit anhaftet. Zu dieser Prozedur schaltet sie
eine Musikkassette mit der Arie ein. Die Musik erklingt außerdem in einer
weitaus weniger mystischen Situation: während Sally sich mit ihrem Ex-Ehemann
Dave streitet, mit ihrer Schwester spricht und anschließend das Haus verlässt,
um über den Boardwalk zu ihrer Arbeit zu gelangen, wobei die Musik – sie
entstammt dem Kassettenrekorder in ihrer Handtasche – fortwährend präsent
bleibt.
In Bezug auf die Waschprozedur werden Parallelen mit dem Operninhalt deutlich: Norma,
Oberpriesterin der gallischen Druiden und Kämpfer, betet die Göttin des Mondes an, nachdem
sie die heilige Mistel abgeschnitten hat. Die Regieanweisung vor dem zugehörigen Rezitativ im
Ricordi-Klavierauszug629
Vincenzo Bellini: Norma. Klavierauszug, Milano: Ricordi 1990
|
lautet in deutscher Übersetzung: »Norma im Kreise ihrer Priesterinnen. Ihr Haar ist
lose, ihr Haupt von einem Verbenenkranz umrahmt, und sie hält eine goldene Sichel in
ihrer Hand. Sie besteigt den Druidenstein und blickt wie inspiriert um sich. Alle sind
still.«630
Zit. n. Weinstock, Herbert: Vincenzo Bellini. Aldiswil: Edition Kunzelmann 1975, S. 343.
|
An späterer Stelle vor der eigentlichen Arie heißt es: »Der Mond scheint in vollem
Glanze.«631
Diese Darstellung der Szenerie findet im Film durchaus kompatible Entsprechungen:
Zwar ist Sally, deren Haar ebenfalls lose ist, nicht im Kreise ihrer Priesterinnen, sondern
wird nur von Lou beobachtet; dennoch kann die Sichel im Obstmesser, der
Druidenstein im Waschbecken, der Mond in der Küchenbeleuchtung und die
Mistel in der Zitrone wiedergefunden werden. Die Tages- bzw. Nachtzeit der
Szenen stimmt ebenfalls überein, und statt im heiligen Hain der Druiden befindet
sich Sally in ihrer Küche. Einerseits finden sich folglich Übereinstimmungen
in den beiden Szenen, andererseits mutet Sally wie eben jene ›Casta Diva‹
an, die keusche Göttin, die ihr »schönes Angesicht uns ohne Wolke und
Schleier«632
Ebda. Vgl. Text der Arie: »Jungfräuliche Göttin, die Du diese heiligen uralten Bäume
versilberst, wende Dein schönes Angesicht uns ohne Wolke und ohne Schleier zu.«
|
– Sally hat ihren Oberkörper entblößt – zuwendet.
Malle ironisiert somit Sallys Waschzeremonie, indem er diese profane Tätigkeit mit
einem heiligen Akt der Gottesanbetung assoziiert. Gleichzeitig stellt er Sally selbst als
eine Art Göttin dar, die sie allenfalls für Lou und in anderem, entfernterem Sinne
auch für Joseph, den Croupier-Lehrer ist. Weder dieses Göttinnen-Bild noch
das Arrangieren der Reinigung nach Vorbild der Gottesanbetung in der Oper
werden jedoch von Sally absichtlich herangeführt; sie hört die Musik nicht,
weil sie wie eine Casta Diva wirken möchte – es ist kaum anzunehmen, dass
sie den italienischen Text der Arie geschweige denn den inhaltlichen Kontext
begreift. Dadurch wird die Szene von einer nur schwer fassbaren Atmosphäre aus
unfreiwilliger Feierlichkeit und Ironie bestimmt, zumal sich dieses romantisch-sinnliche
Bild im Kontext des ansonsten von Baulärm und hektischer Stadtatmosphäre
gezeichneten Films wie eine Oase der Ruhe ausnimmt. Die Ironie bezieht sich auf
die gutgläubige
|