- 238 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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Die Musik scheint einen Ritus zu begleiten, den Sally allabendlich vollzieht (vgl. Takes 1 und 16). Nach erledigter Arbeit an der Austern-Bar des Kasinos reibt sie sich am heimischen Waschbecken mit Zitronen ein, die sie vorher frisch schneidet. Der Grund dieser bei warmen Dämmerlicht wie eine feierliche Handlung anmutenden Tätigkeit ist banal: Sie versucht mit dieser Reinigung den Fischgeruch zu überdecken, der ihr aufgrund ihrer Arbeit anhaftet. Zu dieser Prozedur schaltet sie eine Musikkassette mit der Arie ein. Die Musik erklingt außerdem in einer weitaus weniger mystischen Situation: während Sally sich mit ihrem Ex-Ehemann Dave streitet, mit ihrer Schwester spricht und anschließend das Haus verlässt, um über den Boardwalk zu ihrer Arbeit zu gelangen, wobei die Musik – sie entstammt dem Kassettenrekorder in ihrer Handtasche – fortwährend präsent bleibt.

In Bezug auf die Waschprozedur werden Parallelen mit dem Operninhalt deutlich: Norma, Oberpriesterin der gallischen Druiden und Kämpfer, betet die Göttin des Mondes an, nachdem sie die heilige Mistel abgeschnitten hat. Die Regieanweisung vor dem zugehörigen Rezitativ im Ricordi-Klavierauszug629

629
Vincenzo Bellini: Norma. Klavierauszug, Milano: Ricordi 1990
lautet in deutscher Übersetzung: »Norma im Kreise ihrer Priesterinnen. Ihr Haar ist lose, ihr Haupt von einem Verbenenkranz umrahmt, und sie hält eine goldene Sichel in ihrer Hand. Sie besteigt den Druidenstein und blickt wie inspiriert um sich. Alle sind still.«630
630
Zit. n. Weinstock, Herbert: Vincenzo Bellini. Aldiswil: Edition Kunzelmann 1975, S. 343.
An späterer Stelle vor der eigentlichen Arie heißt es: »Der Mond scheint in vollem Glanze.«631
631
Ebda.

Diese Darstellung der Szenerie findet im Film durchaus kompatible Entsprechungen: Zwar ist Sally, deren Haar ebenfalls lose ist, nicht im Kreise ihrer Priesterinnen, sondern wird nur von Lou beobachtet; dennoch kann die Sichel im Obstmesser, der Druidenstein im Waschbecken, der Mond in der Küchenbeleuchtung und die Mistel in der Zitrone wiedergefunden werden. Die Tages- bzw. Nachtzeit der Szenen stimmt ebenfalls überein, und statt im heiligen Hain der Druiden befindet sich Sally in ihrer Küche. Einerseits finden sich folglich Übereinstimmungen in den beiden Szenen, andererseits mutet Sally wie eben jene ›Casta Diva‹ an, die keusche Göttin, die ihr »schönes Angesicht uns ohne Wolke und Schleier«632

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Ebda. Vgl. Text der Arie: »Jungfräuliche Göttin, die Du diese heiligen uralten Bäume versilberst, wende Dein schönes Angesicht uns ohne Wolke und ohne Schleier zu.«
– Sally hat ihren Oberkörper entblößt – zuwendet.

Malle ironisiert somit Sallys Waschzeremonie, indem er diese profane Tätigkeit mit einem heiligen Akt der Gottesanbetung assoziiert. Gleichzeitig stellt er Sally selbst als eine Art Göttin dar, die sie allenfalls für Lou und in anderem, entfernterem Sinne auch für Joseph, den Croupier-Lehrer ist. Weder dieses Göttinnen-Bild noch das Arrangieren der Reinigung nach Vorbild der Gottesanbetung in der Oper werden jedoch von Sally absichtlich herangeführt; sie hört die Musik nicht, weil sie wie eine Casta Diva wirken möchte – es ist kaum anzunehmen, dass sie den italienischen Text der Arie geschweige denn den inhaltlichen Kontext begreift. Dadurch wird die Szene von einer nur schwer fassbaren Atmosphäre aus unfreiwilliger Feierlichkeit und Ironie bestimmt, zumal sich dieses romantisch-sinnliche Bild im Kontext des ansonsten von Baulärm und hektischer Stadtatmosphäre gezeichneten Films wie eine Oase der Ruhe ausnimmt. Die Ironie bezieht sich auf die gutgläubige


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