- 242 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (241)Nächste Seite (243) Letzte Seite (363)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

den Songs Atlantic City, My Old Friend und On the Boardwalk at Atlantic City deutlich. Letztere stehen für die Anstrengungen der Stadt Atlantic City, die Erinnerung an alte Zeiten wieder aufleben zu lassen, wobei die Ironie im Kontext der Darbietungen und in der Kombination von Wunschprojektion und der schnöden Wirklichkeit liegt. Hier zeigt sich der europäische Blick eines Regisseurs, dem die kompromisslose Bauwut und der blinde Aktionismus der Stadtverwaltung im Gegensatz zu europäischen Renovierungs- und Sanierungsmaßnahmen befremdlich, wenn nicht sogar erschreckend erscheinen müssen.

Der Einfluss des Dokumentarischen zeigt sich darin, dass Malle an markanten dramaturgischen Stellen, an denen in einer konventionellen Musikdramaturgie der Einsatz von Musik vorzufinden wäre, diese ausspart und stattdessen dem Geräusch den Vorrang gibt. So erklingt in der Verfolgungsszene in Segment 48 das Quietschen des Parkhausfahrstuhls, während in der Liebeszene (die Malle auch optisch sehr diskret gestaltet) nur das Meeresrauschen zu hören ist. Neben der akustischen Präsentation der Stadt samt Umgebung erreicht Malle so eine unaufdringliche Tongestaltung, die nicht durch stereotype Verwendung von Klischees Emotionen zu wecken versucht. Der Zuschauer wird somit nicht durch vordergründige Sentimentalität angerührt. An anderer Stelle setzt Malle dennoch klar beschriftete Musik ein, um die Handlung ironisch zu kommentieren (s. o.).

Den beiden Protagonisten des Films, Lou und Sally, widmet Malle eine umfangreichere Musikdramaturgie. Der Swing charakterisiert Lou und verdeutlicht, dass er in einer anderen, ferneren Zeit aufgewachsen ist und teilweise auch immer noch dort lebt. Gleichzeitig fungiert er auch als Kennzeichen des Aufwachens von Lou und Grace, die, aus Lethargie und Alltagstrott gerissen, am Ende gemeinsam ein Happy End genießen, wobei sie sich so nahe stehen wie wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben und dabei durch die Musik ihrer Jugend vereint werden. Die ergiebigste und wichtigste musikdramaturgische Zuordnung betrifft Sally. Wie ausführlich analysiert, personifiziert sie unbewusst die Casta Diva, während sie gleichzeitig die heilige Handlung der Anbetung selbst durchzuführen scheint, wobei das heilige Ideal die europäische Kultur und Lebensart ist, hier fokussiert auf die Arie der Bellini-Oper. Die oben erwähnte Distanz des Blickes auf die Charaktere wird hier zugunsten einer zweischichtigen Zeichnung der Person Sally aufgegeben, die einerseits durch ihre entwaffnende Naivität und ihren unerschütterlichen Zukunftsglauben rührend wirkt, deren Zukunftspläne andererseits durch die Anspielungen der Oper und des Französisch-Kurses auch persifliert und wenn schon nicht als unmöglich dargestellt, so doch angezweifelt werden.

Somit manifestiert sich in der musikalischen Darstellung Sallys jene Widersprüchlichkeit von Szenen, die beispielsweise auch beim Einsatz des Country-Stücks Steel Pier zum Ausdruck kommt. Malle vermeidet in diesen Fällen einen affirmativen Gebrauch der Musik und benutzt sie im Gegenteil als Mittel zur Darstellung der Vielschichtigkeit einer Szene. So wird beispielsweise das Bild der sich reinigenden Sally bei Kenntnis der Funktion der Arie für sie von der mystisch-erotischen Synästhesie – Musik/Beleuchtung/(wenigstens imaginärer) Geruch der Zitrone – zur entlarvenden Darstellung ihrer naiven Vision eines ›European Way of Life‹. Malle entmythologisiert so den ›American Dream‹ und auch die Stadt Atlantic City, indem er hinter die Fassade ihrer Bewohner schaut und sie als Abbild der kapi-


Erste Seite (i) Vorherige Seite (241)Nächste Seite (243) Letzte Seite (363)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 242 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?"