Der Vergleich mit suggestiven Hollywood-Praktiken trifft jedoch nur teilweise zu. Es
handelt sich bei der Musik von Brahms nicht um beliebige Filmmusik, sondern um ein
präexistentes Werk, das als Kunstmusik im filmischen und außerfilmischen Kontext zu
gelten hat.
Es erscheint bemerkenswert, mit welch sicherem Gespür für Stimmungen Malle das
Brahmssextett als Filmmusik auswählt. Vor allem der I. Satz scheint prädestiniert zu sein,
eine Liebesszene zu untermalen, findet man doch in ihm eine große Fülle an melodischen
Einfällen, deren Ausdrucksgehalt Bezug auf die Bilder zu nehmen scheint. Das Thema
wird zunächst vom ersten Cello, dann von der ersten Geige/Bratsche vorgetragen, was
nach Wolfgang Ruf »den Charakter einer zunächst offensichtlich ungetrübten
Zwiesprache«74
trägt. Ebenso wird mit dem Seitenthema verfahren (T. 85ff. espressivo animato). Auch
hier trägt zunächst die tiefere Stimme (Cello) das Thema vor, bevor es die Violine
übernimmt. Auch wenn vor derartiger Hermeneutik Vorsicht geboten ist und man den
von Ruf für die Schlusstakte zitierten Scheringschen Katalog von Symboldeutungen bei
Beethoven nur eingeschränkt auf das Stück übertragen kann, so verströmt der Satz auch
wegen seines teilweisen Tanzcharakters (siehe Seitenthema) eine gewisse Lebensfreude
und Leidenschaft, die sich durchaus auf ein Liebespaar übertragen lässt. Im II. Satz
meint Ruf poetischen Gehalt entdecken zu können. Er verbindet den Aufbau
des Themas mit einer Folia, der er unter anderem folgende Konnotationen
zuweist: »Werbung, erotische Gebärde, Feurigkeit [. . . ] sie würden in das bisherige
Mosaik eines Deutungszusammenhangs von glühender, unglücklicher Liebe
passen.«75
Bei allen Vorbehalten vor diesen Deutungsversuchen überraschen dennoch die
Übereinstimmungen mit dem Film.
Hier wird deutlich, welchen Effekt die Musik auf den Filmbetrachter ausüben soll. Die
langen Takes 7 und 8 (388/314sec), die Absenz eines sinnvollen Dialogs und die
daraus resultierende akustische Dominanz der Musik, die zudem aus dem Off
erklingt, lassen erkennen, dass sich Malle mit diesem Frühwerk noch weit entfernt
von seiner ästhetischen Position eines nicht beeinflussenden Musikeinsatzes
befindet.
Die Wahl Malles eines Komponisten wie Brahms ist nicht überraschend; einerseits
wird sie durch die im Film dargestellte soziale Schicht, andererseits durch die in
Frankreich vor allem im Bürgertum herrschende Verehrung deutscher Komponisten
legitimiert. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit die Verwendung dieser Musik
im Zusammenhang mit zeitgenössischen Musikpräferenzen steht. In der Tat
genoss Brahms Ende der 50er/Anfang der 60er-Jahre in Frankreich eine große
Popularität. François Porcile begründet dies teilweise mit dem Erfolg des Filmes von
Malle.76
Vgl. Lacombe, Alain/Porcile, François: Les musiques du cinéma français. Paris: Bordas 1995,
S. 276
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Der Roman Aimez-vous Brahms ...von Françoise Sagan wurde wenige Monate
nach Erscheinen des Films publiziert. Ob er in einem direkten Zusammenhang
zum Film steht, sei dahingestellt. Es ist jedoch festzuhalten, dass die Vorliebe
für Brahms in der Bourgeoisie eine Art Mode bzw. Zeitströmung darstellte,
deren Auswirkungen Malle seismographisch registrierte und in seinem Film
integrierte.77
Pierre Billard weist daraufhin, dass die Verwendung von Brahms im Film wohl im Kontext
einer allgemeinen Verehrung des Komponisten im höheren Bürgertum zu sehen ist, dass
sich Malle jedoch nicht von einer Modewelle hat leiten lassen, sondern vielmehr seinen
eigenen musikalischen Erfahrungen gefolgt sei, da Brahms in seinem Elternhaus und in seiner
musikalischen Erziehung eine gewisse Rolle gespielt habe (nach Interview mit dem Verfasser
am 27. 03. 2002).
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