- 29 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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Der Vergleich mit suggestiven Hollywood-Praktiken trifft jedoch nur teilweise zu. Es handelt sich bei der Musik von Brahms nicht um beliebige Filmmusik, sondern um ein präexistentes Werk, das als Kunstmusik im filmischen und außerfilmischen Kontext zu gelten hat.

Es erscheint bemerkenswert, mit welch sicherem Gespür für Stimmungen Malle das Brahmssextett als Filmmusik auswählt. Vor allem der I. Satz scheint prädestiniert zu sein, eine Liebesszene zu untermalen, findet man doch in ihm eine große Fülle an melodischen Einfällen, deren Ausdrucksgehalt Bezug auf die Bilder zu nehmen scheint. Das Thema wird zunächst vom ersten Cello, dann von der ersten Geige/Bratsche vorgetragen, was nach Wolfgang Ruf »den Charakter einer zunächst offensichtlich ungetrübten Zwiesprache«74

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Ruf (1984), S. 132
trägt. Ebenso wird mit dem Seitenthema verfahren (T. 85ff. espressivo animato). Auch hier trägt zunächst die tiefere Stimme (Cello) das Thema vor, bevor es die Violine übernimmt. Auch wenn vor derartiger Hermeneutik Vorsicht geboten ist und man den von Ruf für die Schlusstakte zitierten Scheringschen Katalog von Symboldeutungen bei Beethoven nur eingeschränkt auf das Stück übertragen kann, so verströmt der Satz auch wegen seines teilweisen Tanzcharakters (siehe Seitenthema) eine gewisse Lebensfreude und Leidenschaft, die sich durchaus auf ein Liebespaar übertragen lässt. Im II. Satz meint Ruf poetischen Gehalt entdecken zu können. Er verbindet den Aufbau des Themas mit einer Folia, der er unter anderem folgende Konnotationen zuweist: »Werbung, erotische Gebärde, Feurigkeit [. . . ] sie würden in das bisherige Mosaik eines Deutungszusammenhangs von glühender, unglücklicher Liebe passen.«75
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Ebda., S. 133
Bei allen Vorbehalten vor diesen Deutungsversuchen überraschen dennoch die Übereinstimmungen mit dem Film.

Hier wird deutlich, welchen Effekt die Musik auf den Filmbetrachter ausüben soll. Die langen Takes 7 und 8 (388/314sec), die Absenz eines sinnvollen Dialogs und die daraus resultierende akustische Dominanz der Musik, die zudem aus dem Off erklingt, lassen erkennen, dass sich Malle mit diesem Frühwerk noch weit entfernt von seiner ästhetischen Position eines nicht beeinflussenden Musikeinsatzes befindet.

Die Wahl Malles eines Komponisten wie Brahms ist nicht überraschend; einerseits wird sie durch die im Film dargestellte soziale Schicht, andererseits durch die in Frankreich vor allem im Bürgertum herrschende Verehrung deutscher Komponisten legitimiert. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit die Verwendung dieser Musik im Zusammenhang mit zeitgenössischen Musikpräferenzen steht. In der Tat genoss Brahms Ende der 50er/Anfang der 60er-Jahre in Frankreich eine große Popularität. François Porcile begründet dies teilweise mit dem Erfolg des Filmes von Malle.76

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Vgl. Lacombe, Alain/Porcile, François: Les musiques du cinéma français. Paris: Bordas 1995, S. 276
Der Roman Aimez-vous Brahms ...von Françoise Sagan wurde wenige Monate nach Erscheinen des Films publiziert. Ob er in einem direkten Zusammenhang zum Film steht, sei dahingestellt. Es ist jedoch festzuhalten, dass die Vorliebe für Brahms in der Bourgeoisie eine Art Mode bzw. Zeitströmung darstellte, deren Auswirkungen Malle seismographisch registrierte und in seinem Film integrierte.77
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Pierre Billard weist daraufhin, dass die Verwendung von Brahms im Film wohl im Kontext einer allgemeinen Verehrung des Komponisten im höheren Bürgertum zu sehen ist, dass sich Malle jedoch nicht von einer Modewelle hat leiten lassen, sondern vielmehr seinen eigenen musikalischen Erfahrungen gefolgt sei, da Brahms in seinem Elternhaus und in seiner musikalischen Erziehung eine gewisse Rolle gespielt habe (nach Interview mit dem Verfasser am 27. 03. 2002).


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