- 58 -Fastenau, Volker: "...comme si on appuyait sur une sonette?" 
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spätromantischen Klangideal eines Hollywood-Dramas. Anstelle breiten Streicherklangs mit chromatisch vorwärtsstrebender Melodik erklingt das typische Klangbild von Saties Musik, die sich durch eine gewisse Sprödigkeit, aber auch durch leichte Verständlichkeit und Eingängigkeit (gerade bei den Gymnopédies) auszeichnet. Die Bassostinati und –orgelpunkte bewirken eine Monotonie, die mit dem im Film dargestellten Gefühlszustand Leroys korrespondieren, der ebenfalls über weite Strecken des Films unverändert bleibt. Harmonisch überwiegen gerade bei den Gnossiennes vermollte Kadenzwendungen, sofern man die harmonischen Entwicklungen in Funktionsschemata pressen will, was einerseits durch die an Modi erinnernde Tonalität ein kirchlich-feierliches Element ausdrückt, andererseits aber auch eine etwas melancholische Stimmung verbreitet. Die Spielanweisungen wirken teilweise wie programmatische Hinweise auf den Bildinhalt; es sei jedoch darauf hingewiesen, dass sie sich für eine verbindliche Interpretation der Handlung nur bedingt eignen. Wohl entsprechen die Tempo- und Vortragsbezeichnungen am Anfang der Stücke der Stimmung und dem Weg des Protagonisten141
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Vgl. I. Gymnopédie: ›lent et douloureux‹ [langsam und schmerzvoll], II. Gymnopédie: ›lent et triste‹ [langsam und traurig].
; die im Notentext auftauchenden außermusikalischen Hinweise werfen jedoch die Frage auf, ob sie der Komponist ernst gemeint hat, oder lediglich einen provokativen Reflexionsanstoß für den Interpreten geben wollte. Saties Jugendfreund Contamine de Latour schreibt dazu:

»Satie wollte die italienischen Vorschriften in der Musik wie piano, pianissimo, dolce, mezzoforte durch andere auf seinem Mist gewachsene und unendlich weniger klassische ersetzen, wie etwa: En se regardant soi même venir [sich selber kommend sehen], [...] Mirifique et convenable [großartig und angemessen]. Er amüsierte sich wie verrückt über seine Erfindungen.«142

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J. P. Contamine de Latour zit. n. Wehmeyer, G.: Erik Satie. Bilder und Dokumente. München: Spangenberg 1992, S. 38

Hier findet sich ein Merkmal für Saties zweideutiges Wesen, der es genoss, durch seine unkonventionellen Kompositionsverfahren als ›enfant terrible‹ der Pariser Musikwelt zu gelten. Die zweifellos in den Kommentaren enthaltene Ironie entspricht dem Ausdruckscharakter der Klavierstücke, die sich einer eindimensionalen Lesart entziehen.

Hervorzuheben ist die hohe atmosphärische Geschlossenheit der Musik im Film. Durch die Beschränkung auf einen Klangtypus erreicht Malle eine durchgehende Stimmung, die sich – entsprechend der Gemütslage Alains – während des Films nicht ändert. Ein weiterer Grund für die Stimmigkeit von Thematik, Bild und Ton mag darin liegen, dass ein Zusammenhang zwischen dem im Roman dargestellten Jacques Rigaut, dem Schriftsteller Drieu la Rochelle, dem Protagonisten Alain Leroy und dem Komponisten Erik Satie besteht. Gévaudan sieht in dieser Verkettung die gleiche Außenseiterrolle:

»Jacques Rigaut, Pierre Drieu la Rochelle et, par voie de conséquence, Alain Leroy: une même marginalité. Où s’affirme ce penchant de la bourgeoisie, lorsqu’elle atteint à un certain niveau de lucidité, pour hâter sa propre destruction. [...] Satie, un autre marginal, avec ses titres dingues et sa musique acide.«143

143
Gévaudan (1975), S. 85–87 (»J. Rigaut, P. Drieu la Rochelle und entsprechend Alain Leroy: allesamt Randexistenzen, in denen sich die Neigung der Bourgeoisie bekräftigt, ihre Vernichtung zu beschleunigen, sobald sie ein gewisses Maß an Klarheit erreicht. [. . . ] Satie, ein weiterer Außenseiter mit seinen verrückten Titeln und seiner beißenden Musik.«)


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