Demnach müsste Lily über eine sehr sensible Wahrnehmung verfügen:
»Obviously, Lily is picking up on facets of reality that we are not used to
perceiving«,190
was wiederum mit ihrem Erwachen der Sinne in Verbindung gebracht werden kann: die
Pubertät als Phase des Entdeckens und Aufnehmens. Zudem erhalten die Tiere
durch die Geräusche verstärktes Gewicht, sie deuten auf eine andere Form des
Zusammenlebens von Mensch und Tier bzw. Mensch und Natur hin, eine Form des
gegenseitigen Respektierens (vgl. die wimmernden Blumen).
Die Geräusche sind oftmals an ein bestimmtes Thema bzw. an bestimmte Personen
gebunden: so das knisternde Holzfeuer an Lily oder die Funkradiogeräusche an die alte
Frau. Hier wird deutlich, was Malle mit ›musikalischer Konstruktion‹ des Films meint.
Durch das Wiederholen von bestimmten Geräuschen und Soundeffekten tauchen
bestimmte Themen und Personenkonstellationen immer wieder auf, so z. B. das Einhorn
(durch den Synthesizerton), die Blumen (durch das Wimmern) oder der Bruder durch
bestimmte Gesangsausschnitte.
Malle verfolgt durch den gesamten Film hindurch das Prinzip der bewussten
Asynchronität. Die Geräusche kündigen somit stets die Quelle an, die akustische Schicht
nimmt das Visuelle voraus. Laut Blanchard rufen die teilweise ungewohnten Geräusche
etwas tief im Zuschauer Verborgenes hervor, welches ihm nicht bewusst ist: »Ces bruits,
ces cris ne nous rassurent guère et nous font sursauter, nous surprennent en nous
renvoyant à quelque fonctionnement viscéral, animal, enfoui au plus profond de
nous.«191
Blanchard, Gérard: Images de la musique de cinéma. Paris: Edilig 1984, S. 85 (»Diese
Geräusche und Schreie beruhigen uns kaum und lassen uns aufschrecken, indem sie uns auf
einen Mechanismus verweisen, der tief in unserem Körper verborgen ist.«)
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Malle zielt in eine ähnliche Richtung dieser etwas unpräzisen Aussage (Blanchard führt
nicht näher aus, was er mit ›fonctionnement viscéral‹ genau meint), wenn
er das Einhorn, die Ratte und das Labyrinth seines Hauses als »univers
archaïque«192
Malle in Mallecot (1978), S. 54 (»archaisches Universum«)
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bezeichnet, das »von weit her, von der Kindheit her
kommt«.193
Offensichtlich spielen beide Aussagen auf entwicklungspsychologische Prozesse an, die
jeder Mensch – so auch der Filmbetrachter – erlebt hat und die durch das Betrachten des
Films wieder wachgerufen werden.
Stimmen
Wie oben bereits erwähnt, spielt die menschliche Sprache als Kommunikationsform eine
untergeordnete Rolle. Somit sind die einzigen Sprecher einer für den Zuschauer verständlichen
Sprache Lily194
Kein Wort Französisch im Film stammt von einem Muttersprachler. Sowohl Therese Giehse
als auch Cathryn Harrison sprechen mit einem Akzent. Vor allem bei letzterer erkennt man
an der Aussprache die englische Herkunft.
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und die alte Dame bzw. dessen alter ego, das Einhorn. Die Frau im Bett spricht zu ihrer
Ratte in einer Fantasiesprache, die Kuehn als »an unintelligible sort of pidgin
German«195
Ebda. (In der Tat sind deutsche Wortfetzen herauszuhören. So in Segment 32, wenn die Frau
den Bruder ausschimpft: ›Geh auch weg!‹)
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und Blanchard als »langue étrangère avec une volubilité quasi
slave«196
Blanchard (1984), S. 129 (»eine fremde Sprache mit quasi slawischem Redefluss«)
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ansehen. Die Kinder im Film spre-
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