- 131 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Auch Guido Adler bestätigt die Idee, daß Mahler im geschaffenen Werk etwas vorausahne:

»[...] wie Goethe sagt, kennt der Dichter die Welt durch Antizipation. Diese Sehergabe spielt in Mahlers Leben eine besondere Rolle: so schrieb er die Kindertotenlieder, bevor er seine geliebte erstgeborene Tochter verloren hat. Er komponierte den Schlußsatz des Liedes von der Erde und der Neunten als Abschied vom Leben, bevor der Todesengel ihn gestreift hatte. Im Lied erreichte er gerade in dieser zweiten Periode vorerst seine volle Eigenart: Reveglie [sic], Der Schildwache Nachtlied, sind der eigenste Mahler, ich möchte sagen, der ›echte‹, wenn diese Bezeichnung nicht Mißdeutungen gegenüber anderen Werken zur Folge haben könnte. Sie sind so ureigen, wie in der Folgezeit, in der folgenden Periode Ich bin der Welt abhanden gekommen, Um Mitternacht, Die Kindertotenlieder (überhaupt die Rückertlieder) und Das Lied von der Erde, die Spitze der Liederpyramide.«14

14
Adler, Mahler, S. 77.

Adler interpretiert Revelge und Der Schildwache Nachtlied also als Antizipation zukünftiger Ereignisse in Mahlers Leben. Bei Revelge dürfte es der Tod sein, die Verlassenheit von allen Menschen, vielleicht die Existenz nach dem Tode. Das andere Lied ist in seiner Aussage nicht eindeutig; es handelt unter anderem von der Verlassenheit von Gott in bedrohter Situation. Dafür kommen verschiedene Stationen in Mahlers Leben in Frage, etwa die Entwicklung zur Demission an der Wiener Hofoper, der Tod der Tochter, die Diagnose des Herzfehlers, eventuell auch die Affäre Almas mit Walter Gropius 1910, wobei nicht klar ist, ob Guido Adler davon wußte, schließlich der eigene Tod. Des weiteren geht es in dem Lied um den Träumer, der in seinem Traum verbleiben und nicht in die düstere Realität zurückgebracht werden will. Als Träumer ist Mahler des öfteren in Erinnerungen dargestellt worden. Offen bleibt allerdings, warum die düstere Realität im Soldatenmilieu gezeichnet wird.

Daß in der Komposition der Kindertotenlieder etwas Antizipatorisches gefunden werden kann, ist bei dem Eintritt des Ereignisses 1907 naheliegend, obwohl Mahler beim Beginn der Komposition 1901 seine spätere Frau Alma nicht einmal kannte und der Gedanke an eigene Kinder also eher fern lag. Daß die Spätwerke Mahlers mit dem eigenen Tod zu tun haben, ist seit der Diagnose des Herzfehlers ebenfalls naheliegend. Adlers Einbezug der genannten Wunderhorn-Lieder in diesen Gedankenkreis ist dagegen neu und weniger handgreiflich.

Es zeigt sich also, daß die drei bedeutendsten Autoren des frühen Mahler Schrifttums – Richard Specht, Paul Stefan und Guido Adler, die alle drei in Wien lebten und zu Mahler persönlichen Kontakt hatten – die Idee von Mahlers Vorausahnungen im Werk verbreitet und deutlich schon vor dem Ersten Weltkrieg vertreten haben.

b.  Die Soldatenthematik in den Wunderhorn-Liedern

Die Funktion der Mahlerschen Lieder als Selbstaussage wurde im zweiten Kapitel anhand von Mahlers eigenen Aussagen bestimmt. Obwohl aufgrund dieser deutlichen


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