- 163 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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VI.  Rezeptionsgeschichte

a.  Zum Gegenstand der Untersuchung

Mahlers Musik, insbesondere die Sechste Symphonie und die Soldatenlieder, sind um 1930 von Redlich und Adorno unmittelbar bzw. mittelbar als Antizipation des Ersten Weltkrieges dargestellt worden. Redlich hatte dabei ausgeführt, daß die Zeitgenossen diese Voraussicht als unverständlich oder lächerlich angesehen hätten1

1
Hans Ferdinand Redlich, Mahlers Wirkung in Zeit und Raum, in: Anbruch 1930, S. 92–96.
. Ähnlich äußerte später Leonard Bernstein, daß die Zeitgenossen Mahlers endlose, brutale, fast manische Märsche hörten, aber weder den Doppeladler noch das spätere Hakenkreuz auf den Uniformen der Marschierer erkannt hätten.2
2
Leonard Bernstein, Ausgewählte Texte, München 1988, S. 20; zuerst in: High Fidelity, April 1967.
Und eine weitere Äußerung Redlichs schließt sich hier an, daß nämlich das philosophische Rätsel dieser Symphonie vom kriegerischen Tatensturm dieses Jahrhunderts selbst gelöst worden sei3
3
Hans Ferdinand Redlich, Vorwort zur Taschenpartitur der VI. Symphonie Gustav Mahlers, Mainz: Eulenburg, 1968, S. IVf.
. Mit dem Begriff »Rätsel« bezieht sich Redlich auf eine eigene Äußerung Mahlers zur Sechsten4
4
»Meine VI. wird Rätsel aufgeben [. . . ]« Brief an Richard Specht vom Herbst 1904, Mahler, Briefe, S. 295.
. Damit postulieren beide Autoren, daß Mahlers Zeitgenossen diesen in der Musik ausgemachten Gehalt nicht wahrgenommen hätten und daß ihnen erst die Erfahrung der politischen Ereignisse die Augen für diese Perspektive geöffnet habe.

Diese Postulate ziehen eine Untersuchung nach sich, die die Entwicklung der Rezeption bei einer größeren Zuhörerschaft nachzugehen versucht. Die im vorausgehenden Kapitel dargestellte Interpretationsgeschichte hat sich auf einen kleinen Kreis von Autoren beschränkt, die sich intensiv mit Mahler auseinandergesetzt haben. Hier haben sich die Postulate bestätigt gefunden, obwohl wichtige Bestandteile der Nachkriegsinterpretation – Vorahnung und Weltuntergang – schon vor 1914 präsent waren. Es gilt nun zu untersuchen, welche Ideen, welche Bilder und Assoziationen die Musik bei einer größeren Hörerschaft hervorgerufen hat, bei der Mahler nicht derart im Zentrum des Interesses stand, sondern als ein Komponist neben vielen anderen wahrgenommen wurde. Dabei lauten die zentrale Fragen:

  • Wurden weltgeschichtliche Ereignisse mit den Werken in Verbindung gebracht?
  • Wie groß wird die Rolle des Marsches bemessen und wie wird er gedeutet?
  • Welches sind die zentralen semantischen Topoi bei der Charakterisierung der Musik?


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