- 32 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
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Beziehung I: Natalie Bauer-Lechner

In Mahlers Budapester Zeit, genau bei einem Besuch Ende 1890, beginnen die Aufzeichnungen von Natalie Bauer-Lechner (1858–1921), die in der Mahler-Forschung zurecht viel Beachtung gefunden haben. Sie ist bis zur Heirat mit Alma 1902 als engste Vertraute Mahlers zu sehen, abgesehen von seiner Schwester Justine. Sie kannte Mahler schon seit der Zeit des Konservatoriumsaufenthaltes71

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Herbert Kilian, Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, Hamburg 1984 [= Bauer-Lechner, Erinnerungen], S. 17.
und verkehrte auch in den Kreisen um Adler, mit denen Mahler um 1880 Kontakt hatte72
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Vgl. Max Ermers, Victor Adler, Wien 1932, S. 100.
. 1907, fünf Jahre nach der Trennung von Mahler, veröffentlichte sie ein biographisches Bekenntniswerk unter dem Titel Fragmente, das Aufschluß über die Auffassungen dieser Mahler-Vertrauten gibt. Sie zeigt sich in dieser Schrift insgesamt als Anhängerin vieler der damals fortschrittlichsten Strömungen, allem voran der Frauenemanzipation. Aber auch Fragen wie Kindererziehung und Hygiene werden aus sehr zukunftsweisendem Blickwinkel betrachtet. Die Verfasserin tritt als Gegnerin des Antisemitismus und als Anhängerin des Sozialismus hervor. Sie vertritt im Sinne von Wagners späten Publikationen den Tierschutz und den Vegetarismus. In pazifistischem Sinne postuliert sie, daß »die Kriege, in nicht allzuferner Zukunft, gewesen sein werden«73
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Natalie Bauer-Lechner, Fragmente. Gelerntes und Gelebtes. Wien 1907, S. 102.
. Im Hinblick auf die Revolution in Rußland 1905 heißt es: »Die große Stunde ist gekommen, wo in Rußland die Soldaten aus Despotengewalt sich dem Volke in die Arme werfen und für dieses und mit ihm wider die Tyrannei sieghaft kämpfen.«74
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Bauer-Lechner, Fragmente S. 100.
Und auch dem Nationalismus erteilt sie eine Absage: »Als besonders kleinlich und verwerflich ist es mir immer erschienen, wenn die Menschen einander als ›Nationen‹ ausschließen, befehden und hassen; am ärgsten, wenn sich dieser Ausdruck der Niedertracht und Plattheit der Jugend in Studenten und Aufstrebenden bemächtigt, mögen sie als Tschechen, Ungarn, Welsche und Deutsche, Juden und Christen, oder in welchen Gestalten immer aneinander geraten.«75
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Bauer-Lechner, Fragmente S. 45.
Gegen Ende des Ersten Weltkrieges veröffentlichte sie eine Schrift, in der sie ihre Antikriegshaltung deutlich ausspricht.76
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Diese Schrift ist nur als handschriftliches Fragment nachweisbar, Zitate daraus sind abgedruckt in Bauer-Lechner, Erinnerungen, S. 13.
Als Konsequenz erfuhr sie eine Anklage wegen Hochverrats und eine längere Gefängnisstrafe.77
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Bauer-Lechner, Erinnerungen, S. 12.

Es ist kaum vorstellbar, daß Mahler so intensiv mit Natalie Bauer-Lechner verkehrt hätte, wenn sie in den genannten Punkten gänzlich unterschiedlicher Meinung gewesen wären. Eventuell ist sie in diesen Auffassungen sogar von ihm beeinflußt. Jedenfalls stimmen ihre Haltungen auch in anderen Punkten überein, wie etwa der Propagierung des Sporttreibens, insbesondere des Schwimmens, Radfahrens und Bergsteigens, was Mahler bekanntlich leidenschaftlich betrieben hat.


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