- 33 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (32)Nächste Seite (34) Letzte Seite (410)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

c.  Judentum und Antisemitismus in der Wiener Ära

»Unerhört sind die politischen Verhältnisse, meinem Empfinden nach unhaltbar, die Verfassung wackelt und wer weiß, wie bald wir hier die heftigsten und einschneidendsten Veränderungen erleben. Der Antisemitismus ist, wenigstens auf dem Papier, ungeheuer. Es giebt Zeitungen, in denen nichts steht als: ›Jüdischer Gauner‹, ›Juden-Gemeinheit‹, ›wieder eine jüdische Schweinerei‹ u. s. w., und unter diesen Unterschriften dann die infamsten Schimpfereien [...]«

Diese Beobachtungen Bruno Walters, des engen Vertrauten Mahlers, vom 20.11.190178

78
Brief vom 20.11.1901 an seinen Vater, Bruno Walter, Briefe 1894–1962, Frankfurt/M. 1969, S. 46.
– zwei Monate, nachdem Walter sein Engagement an der Wiener Hofoper angetreten hatte – werfen eine deutliches Licht auf die kulturelle Situation im Wien der Jahrhundertwende. Man kann die Zeit davor, die Mahler in Hamburg verbrachte (1891–1897), als Phase der relativen politischen Ruhe bezeichnen. Die liberale Hafenstadt bildete weder ein Zentrum von Nationalitätenkonflikten noch des Antisemitismus. Arthur Neißer bezeichnet die Hamburger Jahre als die vielleicht einzigen ruhigen Arbeitsmöglichkeiten während Mahlers kampfdurchwühlten Lebens.79
79
Arthur Neißer, Gustav Mahler, Leipzig 1918, S. 34.
Dem widerspricht Rudolf Mengelberg, indem er sich auf Ausführungen des Hamburger Musikchronisten Heinrich Chevalley bezieht. Dieser hatte auf die permanenten Spannungen zwischen Mahler und seinem Vorgesetzen, dem Intendanten Pollini, hingewiesen und Mahlers Zeit in Hamburg als Martyrium und als via dolorosa bezeichnet.80
80
Rudolf Mengelberg. Gustav Mahler, Leipzig 1923, S. 15ff. Mengelberg bezieht sich auf eine Abhandlung Chevalleys in einem Programmbuch des Amsterdamer Concertgebouw vom 11. Januar 1923.
Die Spannungen gründeten aber auf Meinungsverschiedenheiten in dienstlichen Angelegenheiten und nicht auf politischen Konflikten.

Mahler war sich der politischen Probleme, die sich ihm bei einem neuerlichen Ortswechsel in den Weg stellten, unzweifelhaft bewußt:

»Mein Judentum verwehrt mir, wie die Sachen jetzt in der Welt stehen, den Eintritt in jedes Hoftheater. – Nicht Wien, nicht Berlin, nicht Dresden, nicht München steht mir offen. Überall bläst jetzt derselbe Wind.«81

81
Brief an Friedrich Löhr aus Hamburg, ohne Datum, Mahler, Briefe, S. 117, dort datiert auf Ende 1894 oder Januar 1895, bei La Grange I, 445 Anm. 60, mit Anfang 1894 datiert.

Ähnlich äußerte er sich auch gegenüber seinem Budapester Freund Ödön von Michalovich, von dem er Unterstützung in Sachen der Berufung erwartete, am 21. Dezember 1896. Als sich die Aussichten auf eine Berufung nach Wien intensivierten, nannte er als einen der beiden Hinderungsgründe

»...daß ich als Jude geboren bin. Was dies anbetrifft, so möchte ich nicht verhehlen, Ihnen mitzuteilen (falls Sie es nicht schon wissen), daß ich bald nach meinem Abgange von Pest meinen Übertritt zum Katholizismus vollzogen habe...«82

82
Blaukopf, Dokumente 209.


Erste Seite (i) Vorherige Seite (32)Nächste Seite (34) Letzte Seite (410)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 33 -Hanheide, Stefan: Mahlers Visionen vom Untergang