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Einleitung

Analyse und Interpretation

Bei der notierten Musik westeuropäischer Tradition steht die Interpretation im Mittelpunkt des Musizierens. Ein Notentext besteht aus Zeichen, die auf verschiedene Weise gedeutet werden können und sich somit einer simplen Übertragung in Klang entziehen: »Die im Text notierte Struktur eines musikalischen Kunstwerks weist einen Reichtum von Beziehungen auf, der in seiner Gesamtheit nicht durch einen einmaligen Akt der Klangrealisierung ästhetisch verwirklicht werden kann« (Danuser [1994], S. 1055). Zweck der Interpretation ist es, aus diesen zahlreichen Beziehungen eine begrenzte Auswahl zu treffen, um im Konzert dem Zuhörer eine kohärente Perspektive über das vorgetragene Werk zu liefern.

Um vom Zuhörer als positiv bewertet zu werden, darf diese Auswahl nicht beliebig getroffen werden. Es geht im Interpretationsprozess nicht darum, irgendeine Perspektive des Notentextes darzulegen, sondern möglichst diejenige, die der Komponist im Sinn hatte, da »die Qualität der Interpretation [. . . ] als abhängig vom Grad der Annäherung an das kompositorisch Gemeinte [gilt]« (Eggebrecht [1967], S. 408). Vom Notentext allein kann aber nicht eindeutig herausgefunden werden, was dieses ›kompositorisch Gemeinte‹ ist. Ausschlaggebend für die Auswahl der Perspektive wird dann eher die Auffassung des Musikers dessen, was der Komponist aussagen wollte: Interpretation ist somit »the rendering of a musical composition, according to one’s conception of the author’s idea« (Oxford English Dictionary, zitiert in Davies/Sadie [2001], S. 498).

Das Bild, das ein Interpret sich von den Absichten des Komponisten macht, hängt z.T. mit geschichtlichen und kulturellen Faktoren zusammen:

Das Streben nach der richtigen Interpretation wird getragen und zugleich durchkreuzt durch die individuelle und geschichtliche Subjektivität des Interpreten. Mit ihrem Entstandensein tritt die Komposition [...] zugleich in eine Geschichte ihrer Interpretation ein. Zeichen dieser Geschichte des Verstehens und Übersetzen sind z. B. das Verändern von Aufführungspraktiken, [...] und innerhalb der schriftlichen Fixierung die Bearbeitung als Anpassung an den lebendigen Zeitstil (Eggebrecht [1967], S. 408).

Die bedeutendste Quelle, aus welcher der Interpret schöpfen kann, ist und bleibt jedoch der Notentext selbst. Von der immensen Anzahl von Beziehungen, die in einem Notentext gefunden werden können, sind nämlich nicht alle von gleicher Wichtigkeit. Wie die Informationstheorie besagt (vgl. Meyer [1956] und Moles [1972]), sind bei jedem Komponisten die Abweichungen zum eigenen Stil entscheidend:

The customary or expected progression of sounds can be considered as a norm, which from a stylistic point of view it is; and alteration in the expected progression can be considered a deviation. Hence deviations can be regarded as emotional or affective stimuli (Meyer [1956], S. 32).


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