dieser Arbeit aber gerade die Synthese einer musikalisch
sinnvollen Interpretation eines ganzen Stückes sein sollte, kamen Orchesterwerke nicht in
Frage.
Musik für ein Soloinstrument ist für die Arbeit mit Rubato am besten geeignet.
Besonders das Klavier erweist sich aufgrund seines ziemlich realitätsgetreuen
MIDI-Klangs und seiner im Vergleich zu anderen Instrumenten stark eingegrenzten
interpretatorischen Möglichkeiten als eine hervorragende Wahl: Es benutzt kein Vibrato,
kann nach dem Anschlag keine Veränderung der Lautstärke vornehmen, und lässt sehr
wenig Spielraum für eine interpretatorische Benutzung der Klangfarbe übrig. Diese
Einschränkungen sind beim jetzigen, frühen Stand der Performanceforschung von
Vorteil, denn sie reduzieren die Anzahl der zu verformenden Parameter auf drei (Agogik,
Artikulation und Dynamik), so dass der Analyse- und Interpretationsvorgang gut
überschaubar bleiben kann.
Die Etüden von Chopin haben alle Merkmale eines zur Analyse und Interpretation mit
Rubato passenden Objektes. Sie sind für Soloklavier komponiert worden und haben
eine der Rubato-spezifischen Arbeitsbedingungen angemessene Stimm- und
Taktanzahl. Noch wichtiger ist aber die Tatsache, dass sie sowohl als Etüden einen
beachtlichen Anteil von Redundanz im musikalischen Material aufweisen – und
somit überschaubar bleiben –, als auch musikalisch sehr reich und ausdrucksvoll
sind.
Eine Performance aller Etüden hätte den Rahmen dieser Arbeit bei weitem gesprengt,
so dass eine Auswahl notwendig war. Da die beiden letzten Etüden des Opus 25 seit
mehreren Jahren eine starke sowohl ästhetische als pianistisch-technische Faszination auf
mich ausüben, wurden sie zu den Objekten dieser Forschungsarbeit.
1.2. Geschichtlicher Hintergrund
Chopin hat insgesamt 27 Etüden komponiert, die in drei verschiedene Gruppen
eingeteilt sind: jeweils zwölf in den Opp. 10 und 25, und drei (ohne Opuszahl) für
Moscheles’ und Fétis’ zweiten Band der Méthode des méthodes. Diese Etüden – und
besonders die 24 ersten – haben in der Klaviertechnik für eine kleine Revolution
gesorgt:
The études are a workshop in Chopin’s piano technique, which was by common
consent strikingly individual, predicated on a ›natural‹ hand shape (with B
major as the paradigmatic scale), and on an acceptance, controversial at
the time, of the imbalance and functional independence of the fingers. [...]
Moreover, in the interests of fluidity of movement and evenness of tone he
was prepared to sanction unorthodox fingerings, as in the detailed autograph
fingerings in the second étude [Op. 10]. [Chopin] was happy, for instance,
to use the thumb on the black keys not only in the fifth (›black key‹) étude,
where we would of course expect it, but also in the sixth, where it helps the
performer maintain the legato of the countermelody alongside the sustained
bass notes (Michaowski/Samson [2001], S. 715).
Dass die Etüden noch heute als ein Fundament der modernen Klaviertechnik betrachtet
und verhältnismäßig oft im Konzert gespielt werden, liegt jedoch nicht nur an den
revolutionären Fingersätzen, die von Chopin eingeführt worden sind,
|