4.3. Auswahlkriterien im historischen Kontext des Dachverbandes
Als sich 1924 Laiensinfonieorchester erstmals in einem Dachverband zusammenschlossen,
hatten sich bereits drei Orchestertypen klar herausgebildet:
1. Das Collegium musicum war 1909 von HUGO RIEMANN am Leipziger Institut
für Musikwissenschaft in Form eines Streichorchesters wiedererweckt worden,
das sich der mittelalterlichen Musik und der Musik des 15./16. Jahrhunderts
widmete. Daraufhin haben sich verschiedene Formen des Collegium musicum erneut
etabliert:69
69 Vgl. GUDEWILL, Sp. 1560f.
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Die einen orientierten sich an der musikwissenschaftlichen Arbeit. Hier sind z.B.
FRIEDRICH BLUMES »Offene Musikabende« seit 1951 an der Universität Kiel mit
prima-vista-Spiel und musikwissenschaftlichen Erläuterungen zu nennen. Anderen oblag
die akademische Musikpflege. Das Collegium musicum galt dann als Angebot des
Studium generale und wandte sich an alle Studierenden. Semesterabschlußkonzerte und
Umrahmung akademischer Festakte gehören zu seinen typischen Auftrittsformen. Eine
dritte Form trug zur städtischen Musikpflege bei. Dieses Collegium musicum wurde de
facto zu einem bürgerlichen Musikverein, der interessierte Bürger zuließ, auch wenn das
Ensemble einer Universität angegliedert blieb. Außerhalb der Universität fanden
Konzerte für die städtische Öffentlichkeit statt. Zudem erfüllten sie in loser Folge die
Aufgabe, das örtliche Konzertangebot und die eingeschränkte Reisetätigkeit der wenigen
Berufsorchester zu ergänzen. Der Kern dieser akademischen Orchestervereinigungen
bestand aus Streichern, und die Bläser ergänzten sich aus den Reihen ehemaliger
Militärmusiker. Umgekehrt verloren viele Laienorchester ihre besten Spieler (Streicher
und Bläser) aushilfsweise, oder vereinzelt auch dauerhaft, an neu entstehende
Berufsorchester.70
70 Vgl. SCHÄFER, FB 1: »Die guten Streicher waren Verstärkung in den Berufsorchestern
und spielten dort bei den Sinfoniekonzerten mit, oder das Beispiel Stralsund: Viele Bläser
kamen von den Liebhaberorchestern dazu, wenn z.B. eine Wagner-Oper eine
außergewöhnlich große Besetzung verlangte.«
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Aus Besetzungsgründen sei somit »eine wechselseitige Unterstützung der Orchestervereine aus der
Nachbarschaft«71
erfolgt, aus der sich auch die gemeinsame Bewältigung von wirtschaftlichen, steuerlichen
und urheberrechtlichen Sorgen ergab.
2. Die Entwicklung bürgerlicher Orchestervereinigungen ist auf ein allgemeines
bürgerliches Bildungsinteresse in allen Bereichen der Kunst zurückzuführen. Es
entwickelte sich im 18. Jahrhundert als eine Folgeerscheinung der Aufklärungsphilosophie
und der Popularisierung von Wissenschaft und Kunst. Wachsender Wohlstand ließ
kleinere und größere instrumentale Initiativen entstehen. Musikalische Bildung und
Musikausbildung galten dem Bürgertum als grundsätzlich förderungswürdig.
SOWA dokumentiert die überlieferten Pläne und Quellen der rund 70 erfolgten
Gründungen öffentlicher Musikinstitute zwischen 1800 und 1843 und gibt die
Zahl der Privatanstalten mit schätzungsweise 3500 für die deutschen Länder
an.72
72 SOWA, S. 11 und 224; Vgl. GRUHN 1993, S. 89.
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Diese 70 neuen »Institute zur Musikerziehung« leisteten eine entscheidende
Hilfestellung beim Erwerb musikalischer (Aus-)Bildung in Musiktheorie und auf allen
Orchesterinstrumenten. Die Folge war, daß gegen Ende des 19. Jahrhunderts die
Laiensinfonieorchester,
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