- 97 -Kietz, Nicola: Musikverstehen und Sprachverstehen 
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unterschiedliche Ausprägungen einer allgemeineren kognitiven Fähigkeit sind, die zeitliche Phänomene strukturiert (s. Lerdahl/Jackendoff 1983, S. 330). Dies sind starke Behauptungen, die ohne empirische Beweise ziemlich wertlos sind, denn in Kapitel 3 ist bereits deutlich gemacht worden, daß nicht bedingungslos von theoretischen Beschreibungen auf mentale Fähigkeiten geschlossen werden darf.
Seit Veröffentlichung der Theorie von Lerdahl/Jackendoff sind nachträglich jedoch einige musikpsychologische Untersuchungen durchgeführt worden, die die kognitive Adäquatheit der beschriebenen musikalischen Strukturbildung zumindest teilweise bestätigen konnten. Jeder der vier Typen struktureller Analyse wurde bisher ansatzweise überprüft, und die Ergebnisse deuten tatsächlich auf eine mentale Repräsentation dieser Art hin (grouping structure: Deliège 1987, Clarke/Krumhansl 1990; metrical structure und time-span reduction: Palmer/Krumhansl 1987a, b, 1990; für prolongational reduction s. Krumhansl 1991, S. 294). Eine Ausdehnung der Untersuchungen - auch auf andere musikalische Stile - ist aufgrund der Tatsache wünschenswert, daß diese Theorie am vollständigsten metrische, rhythmische, tonale und harmonische Gesichtspunkte in eine einzige mentale Repräsentation integriert,

Allerdings fehlt noch eine exakte Beschreibung der Relationen zwischen den vier Typen musikalischer Strukturrepräsentation (s. Stoffer 1993, S. 476).

was in anderen Modellen nicht der Fall ist. Eine Ausweitung auf andere musikalische Stile und Kulturen könnte weitere universale und kulturspezifische kognitive Fähigkeiten zutage fördern, die für das klassische tonale Idiom nicht vonnöten sind und daher dort nicht ausgemacht werden können.
Der größte Nutzen des Modells von Lerdahl/Jackendoff besteht meiner Ansicht nach aber vor allem darin, durch die Unterscheidung von well-formedness rules und preference rules flexibel zu sein gegenüber individuellen Unterschieden bei der Musikwahrnehmung. Die Theorie ist zwar ausgelegt für einen idealen, erfahrenen Hörer, bietet aber die Voraussetzungen zu einer Adaption an Hörertypen unterschiedlichen musikalischen Erfahrungsgrades (vgl. West/Howell/Cross 1991, S.38).
Ein häufig angeführter (vgl. z.B. Laske 1980, S. 82) Nachteil der Theorie ist die Beschränkung auf das strukturelle Wissen des Hörers und die Ausklammerung des prozeduralen Wissens. In einer Erweiterung des Modells um diesen Aspekt dürfte in Zukunft eine mögliche Forschungsperspektive liegen.


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