4. Eine Metaerzählung: Geschichtlichkeit
4.1. Die Institutionalisierung der Musikwissenschaft im Umfeld des Historismus
Das historische Denken, das historische Bewusstsein oder der ausgebildete
historische Sinn sind eine historisch bedingte neuzeitliche Errungenschaft. Die
Kategorie der Geschichtlichkeit tritt nahezu gleichzeitig mit dem Historismus
auf.1
Vgl. Bauer, G., Geschichtlichkeit. Wege und Irrwege eines Begriffs, Berlin: de Gruyter, 1963,
S. 4.
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Die Geschichtlichkeit wird in der vorliegenden Arbeit insofern mit dem Historismus
gleichgesetzt, als dieser im Sinne des wissenschaftlich-historischen Denkens gebraucht
wird.2
Verschiedene Definitionen des Historismus werden im folgenden Abschnitt 4.2 vorgestellt.
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Die in diesem Kapitel skizzierte Geschichte des Historismus dient der Darlegung
der Verwissenschaftlichung des historischen Denkens. Die Entstehung der
Geschichte als Fachwissenschaft steht im Entwicklungsprozess der Kategorie
der Geschichtlichkeit. Diese fungiert in ihrer wissenschaftlichen Form als
Grundlage zur Erörterung von Gegenwartsfragen und zur Bestimmung von
Zukunftsperspektiven.3
Vgl. Jaeger, F. / Rüsen, J., Geschichte des Historismus, München: Beck, 1992, S. 4.
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Die Institutionalisierung der Musikwissenschaft – bzw. der Historischen
Musikwissenschaft – geht auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück, in dem die
Geschichtswissenschaften / Geisteswissenschaften im deutschen Sprachraum etabliert
wurden. Die Begründung der Geschichtswissenschaften / Geisteswissenschaften als
Fachwissenschaften basiert auf dem damaligen kulturellen Umfeld, bzw. der Strömung des
Historismus, die von der Kritik der Romantik an der Aufklärungs-Moderne ausgehend
entwickelt wurde. Die Musikwissenschaft wurde am Ende des 19. Jahrhunderts als
ein Endprodukt des genannten Umfelds der bürgerlichen Moderne in einer
Form von Geschichtswissenschaft bzw. Geisteswissenschaft institutionalisiert.
Das moderne Wissenschaftskonzept der Musikwissenschaft als eine bürgerliche
Geisteswissenschaft findet man heute immer noch in der Historischen Musikwissenschaft.
Im Memorandum (1999) der »Gesellschaft für Musikforschung« z. B. ist es wie folgt
formuliert:
(Im übrigen) hat das Fach (Musikwissenschaft) eine im hohen Maße
gesellschaftsrelevante Funktion zu erfüllen. Die Geisteswissenschaften und
somit auch die Musikwissenschaft sind nach der allgemeinsten und
umfassendsten Definition »der Ort, an dem sich moderne Gesellschaften
ein Wissen von sich selbst in Wissenschaftsform verschaffen« (Mittelstraß).
Sie fungieren als Garant des »kollektiven Gedächtnisses«, indem sie das,
was die Vergangenheit der Gesellschaft ausmacht und damit ihre Identität
wesentlich prägt, bewahren und in der wissenschaftlichen Aufarbeitung
vergegenwärtigen.4
Die Musikforschung, 52. Jg., H. 1, 1999, S. 1.
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