4.2. Der Begriff des Historismus
Der Begriff »Historismus« ist vieldeutig. Zunächst geht man davon aus, dass
Historismus als Schlagwort eine Denkweise meint, die sich auf die Geschichte
konzentriert und dem historischen Denken eine zentrale weltanschauliche Bedeutung
zuschreibt.5
Jaeger, F. / Rüsen, J., a. a. O., S. 2.
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In
polemischer und negativer Verwendung bezeichnet Historismus den Positivismus des historischen
Denkens6
Positivismus bedeutet hier ein historisches Denken, in dem es vor allem auf eine genaue
und überprüfbare Ermittlung historischer Fakten ankommt und das sich um tiefgreifende
Zusammenhänge dieser Fakten sowie um die Rolle des historischen Wissens in der Gegenwart
wenig kümmert (vgl. Jaeger, F. / Rüsen, J., a. a. O., S. 6).
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oder
Relativismus7
Für ein historisches Denken, das die Vergangenheit nicht in klaren Zusammenhängen mit
der Gegenwart sieht, sondern sie geradezu gegen solche Zusammenhänge für sich in ihrer
jeweiligen Eigenart zu verstehen sucht, gibt es keinen die Unterschiedlichkeit vergangener
Zeiten übergreifenden Wertmaßstab des historischen Urteils mehr. Bezeichnet Historismus
dieses Denken, dann wird ihm oft der Relativismus zugeschrieben (vgl. ebd.).
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Die positive und neutrale Bezeichnung des Wortes »Historismus« wird für ein
historisches Denken verwendet, das über die Fähigkeit verfügt, alle Bereiche des
menschlichen Lebens in geschichtlichen Zusammenhängen, in zeitlichen Bewegungen, zu
sehen.8
Diesem Begriff des Historismus schreiben Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen
das »moderne historische Denken« zu: Der Begriff »Historismus« erhält einen
Erkenntnischarakter. Dabei geht es um die Erkenntnis der Veränderlichkeit der
menschlichen Welt und damit um diejenige der Vielfalt und der Verschiedenheit
des menschlichen Lebens. Unter Historismus wird ein neutrales historisches
Denken, mit anderen Worten, der Prozess der grundsätzlichen Historisierung
alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte
verstanden.9
Troeltsch, E., Der Historismus und seine Probleme, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Tübingen:
Mohr, 1922, S. 102.
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Betrachtet man jedoch den Historismus als Grundlage der historischen Wissenschaften,
insbesondere der Geschichtswissenschaften / Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts,
bedeutet Historismus nicht die moderne Form des historischen Denkens, sondern
dessen erste Ausprägung in den Denkformen der historischen Wissenschaften des
19. Jahrhunderts.10
Jaeger, F. / Rüsen, J., a. a. O., S. 7.
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Unter Historismus versteht man nun die Art der Begriffsbildung der historischen
Forschung, welche die Geschichtswissenschaften / Geisteswissenschaften im
19. Jahrhundert charakterisiert. Der Historismus beschäftigt sich dabei mit der Frage,
wie die Erkenntnis des Geistes / der Geschichte möglich ist. Ausgehend davon, dass die
Möglichkeit der Erkenntnis der Natur schon von den Denkern der Neuzeit begründet
wurde, und dass die Grundlage der Naturwissenschaft als Erfahrungswissenschaft durch
die Philosophie Immanuel Kants bestimmt wurde, führt der Historismus die erstere
Fragestellung zur weiteren, wie die Geisteswissenschaft / Geschichtswissenschaft als
Erfahrungswissenschaft zu begründen ist. Versteht man somit unter Historismus die für
die Geschichtswissenschaft / Geisteswissenschaft des 19. Jahrhunderts maßgebliche
Denkform,11
lässt sich der Historismus als Wissenschaftskonzept auffassen.
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