5. Historische Musikwissenschaft – ihre Gegenstände und Methoden
5.1. Das Verhältnis der Musikgeschichtsschreibung zur Ästhetik
Die Gegenstände und die Methoden der Historischen Musikwissenschaft, die in Kapitel 3
und 4 durch die Betrachtungen zur ästhetischen Moderne und zur Strömung des
Historismus implizit behandelt wurden, stützen sich auf das ästhetische und das
historische Bewusstsein in der Moderne. Das historische und das ästhetische
Bewusstsein, deren Wurzeln in die europäische aufklärerische Rationalisierung des
18. Jahrhunderts zurückgehen, stehen durch die Strömung der ästhetischen Moderne
und des Historismus im 19. Jahrhundert in einem engen Verhältnis. Das Korrelat von
Historismus und Ästhetik zeigt sich deutlich in der historischen Musikforschung, die sich
im genannten Umfeld des 19. Jahrhunderts ausbildet. Die Idee der Autonomieästhetik,
die der als Tonkunst bezeichneten Instrumentalmusik des 19. Jahrhunderts verstärkt
zukommt, betrifft von nun an auch ältere Musik, die in Verbindung mit der
geschichtlichen Musikforschung autonomisiert wird. Das romantische Bewusstsein, das
sich durch die Suche nach der Identität des modernen Menschen auszeichnet, versucht
durch die Historisierung der Musikforschung einen Entwicklungsprozess der
Musik zur Autonomisierung zu bestätigen. Die von der modernen autonomen
Tonkunst ausgehend entwickelte historische Musikforschung weist also zugleich
die Ästhetisierung des Historischen und die Historisierung des Ästhetischen
auf.1
Dahlhaus, C., Grundlagen der Musikgeschichte, Köln: Hans Gerig, 1977, S. 116.
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Carl
Dahlhaus sieht das Verhältnis zwischen der historischen Forschung und der Ästhetik der
Musik darin, dass beide als Zugangsweisen zu Kunstwerken – uns zwar als objektivierend
distanzierende Zugangsweisen – nach dem Zerfall der Gebrauchsfunktion ideengeschichtlich
zusammengehören.2
Das Verhältnis der Musikgeschichtsschreibung und der Autonomieästhetik kann somit
als eine ideengeschichtliche Herausforderung erklärt werden.
Walter Wiora zufolge entwickelten sich historische Aspekte der Musik im Zusammenhang mit
der modernen ästhetischen Auffassung der Musik, d. h. der Auffassung der Musik als schöne
Kunst3
Wiora, W., Grenzen und Stadien des Historismus in der Musik, in: Wiora, W. (Hrsg.), Die
Ausbreitung des Historismus über die Musik, Regensburg: Gustav Bosse, 1969, S. 310.
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In der Antike und im Mittealter war der Begriff »Musik« nicht auf denjenigen der Tonkunst
beschränkt und beinhaltete die die Natur »vollendende« Techne oder die mathematische
Struktur4
Dahlhaus, C., »Reine« oder »adäquate« Stimmung?, in: Eggebrecht, H. H. (Hrsg.), Archiv
für Musikwissenschaft, 39. Jg., 1982, S. 15.
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Deshalb gilt das Interesse der Musikforschung in der Antike und im Mittealter nicht der
Geschichte, sondern der Theorie. In der Renaissance ist im Gegensatz dazu der Begriff
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