Bewusstsein, das als Legitimation der europäischen Kunstmusik fungiert. Dadurch
funktioniert die Historische Musikwissenschaft als eine die Vorherrschaft der
europäischen Kunstmusik legitimierende Forschung. Diese Legitimationsfunktion ist in
der bildungsbürgerlichen Wissenschaftstradition der ästhetischen und historischen
Musikforschung fixiert, so dass trotz der zur Delegitimation tendierenden vielfältigen
Musikphänomene in der Gegenwart die Infragestellung des Legitimationsproblems der
Musikwissenschaft hinterherhinkt.
Blickt man auf die Szene der gegenwärtigen Musikkultur, findet man
vielfältige Landschaften mit Perspektiven der Gesellschaft, der hochentwickelten
Technologie und der Massenkultur. Dabei wird an dem Status der
Ästhetik im Sinne der Moderne gezweifelt. In einem hochentwickelten
Spätkapitalismus,8
Zum Begriff »Spätkapitalismus« siehe Kapitel 6.
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in dem all die in der Stufe des Frühkapitalismus noch nicht kommerzialisierten Bereiche
in der Logik des Kapitals die Gegenstände des Konsums geworden sind, betrifft die Rede
vom Verhältnis zwischen Kunst und Kommerz nicht nur die Popularmusik, sondern auch
die so genannte E-Musik. In der spätkapitalistischen Logik ist die Autonomie der Kunst
im Sinne der ästhetischen Moderne zerfallen. Gibt es heute die Autonomie der Kunst,
dann ist sie diejenige gegenüber der Institution, weil die moderne Kunst mit der
Prämisse der Autonomie der Kunst gegenüber dem bürgerlichen Leben aufgrund ihrer
Legitimierung durch die Institution ihren avantgardistischen Charakter verloren
hat.
Aufgrund des Zerfalls der Autonomieästhetik wird in der
als Zeitalter der Massenkultur gekennzeichneten Gegenwart die
Popmusikforschung9
Beispielsweise sind das »Forschungszentrum Populäre Musik (FPM)« der Humboldt
Universität und der »Arbeitskreis Studium populärer Musik e. V. (ASPM)« in Deutschland
zu nennen.
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begründet. Insbesondere im Umfeld der gegenwärtigen Debatte um die Postmoderne
gewinnt der Bereich der populären Musik, der unter der Dominanz der modernen
Ästhetik und der mit ihr zusammenhängenden Forschung der Historischen
Musikwissenschaft nur am Rande der Musiksoziologie berührt wurde, an
Aufmerksamkeit.
Andererseits wird die Geschichtlichkeit der Musik, die die moderne
Geschichtsphilosophie voraussetzt, in der gegenwärtigen Skepsis gegenüber der
modernen Geschichtsphilosophie, die die Debatte wie die vom »Ende der
Geschichte«10
Vgl. Gehlen, A., Ende der Geschichte, in: ders., Einblicke, Frankfurt a. M.: Limburger, 1975.
Was bedeutet sie? Keine verrückte, herrliche Gläubigkeit mehr, keine offenen Horizonte,
keine Fata Morgana, keine atemeinschnürenden Utopien, sondern die Abwicklung, das
Pensum. Und wer unter uns wollte sagen, daß er das nicht schon spürt? So wäre ein Zustand
zu erwarten, den ich mit dem Ausdruck »Posthistorie« schon seit einigen Jahren bezeichne,
ein Zustand, der unmittelbar an das Rahmenthema dieses Vortrags ausschließt, das heißt:
»Das Ende der Geschichte« [. . . ] (hier: S. 126); ders., Über kulturelle Kristallisation,
in: Welsch, W. (Hrsg.), Wege aus der Moderne, Berlin: Akad. Verlag, 1994, S. 133–143.
Ideengeschichtlich ist nichts mehr zu erwarten, sondern die Menschheit hat sich in dem jetzt
vorhandenen Umkreis der großen Leitvorstellungen einzurichten, natürlich mit der dann
noch dazu denkenden Mannigfaltigkeit von allerlei Variationen (hier: S. 141).
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aufzeigt, in Frage gestellt. Die Infragestellung der modernen Geschichtsphilosophie kann
man auch in der Tendenz der E-Musik des 20. Jahrhunderts ablesen: Am Anfang dieses
Jahrhunderts wurde zwar die durchrationalisierte Musik wie die serielle aufgrund des
Diktats von Adornos »Materialgeschichte« als eine logische, notwendige Folge der
Geschichte der abendländischen Musik demonstriert. Aber im Prozess des
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