Es gibt keinen Grund anzunehmen, man könne Metapräskriptionen
bestimmen, die all diesen Sprachspielen gemein wären, und daß ein
revidierbarer Konsens, wie der, der zu einem bestimmten Zeitpunkt in der
Gemeinde der Wissenschaftler herrscht, die Menge der Metapräskriptionen
umfassen könnte, die die Menge der in einer Gemeinschaft zirkulierenden
Aussagen regelt. Vielmehr ist der heutige Verfall der Legitimationserzählung,
gleich ob traditionell oder »modern« (Emanzipation der Menschheit oder
das Werden der Idee), gerade mit der Aufgabe dieser Überzeugung
verbunden. Ebenso ist es der Verlust dieser Überzeugung, den die
Ideologie des »Systems« zugleich durch ihre totalisierende Prätention ersetzt
und durch den Zynismus ihres Performativitätskriteriums zum Ausdruck
bringt.21
Lyotards Ansicht nach gilt der Konsens als Mittel für das wahrhafte Ziel, das
das System legitimiert: die Macht. Lyotard setzt eher eine Macht voraus, die
die Ordnung der Vernunft stört und die Erklärungsfähigkeiten destabilisiert
und sich in der Verordnung neuer Normen des Begreifens manifestiert. Daher
fragt sich Lyotard, ob eine Legitimierung allein durch die Paralogie möglich
wäre.22
Paralogie unterscheidet sich von der Innovation. Während Innovation vom System bestimmt oder
benutzt wird, um seine Effizienz zu verbessern, gehört Paralogie zur Hervorbringung des Wissens
selbst.23
Von der wissenschaftlichen Pragmatik ausgehend legt Lyotard seine Betonung auf
den Dissens. Ihm zufolge basiert die Suche nach einem universellen Konsens
auf zwei Voraussetzungen: 1. Alle Sprecher über Regeln oder über die für alle
Sprachspiele universell gültigen Metapräskriptionen [können] einig werden
[. . . ], obwohl diese selbstverständlich heteromorph sind und heterogenen
pragmatischen Regeln zugehören. 2. Die Finalität des Dialogs [ist] der Konsens
[. . . ].24
Für Lyotard ist der Konsens jedoch nur ein Zustand der Diskussionen, nicht ihr Ziel.
Das Ziel der Diskussion ist vielmehr die Paralogie. Die Erfindung entsteht in der
Meinungsverschiedenheit. Lyotard zufolge impliziert das Erkennen der Heteromorphie
der Sprachspiele den Verzicht auf den Terror. Lyotards Rede von der Krise der »großen
Erzählungen«, die die Aporie der Moderne impliziert, richtet sich nicht darauf, einen
Ausweg zu finden. Lyotard plädiert dafür, diese Krise nun nicht wieder mit neuen
allumfassenden Totalitäten zu bewältigen, sondern sie so zu belassen, sogar zu
befürworten, denn sie ist die Chance für eine neue, offene und tatsächlich pluralistische
Gesellschaft.
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