Postkarten-Erfindung: Oben und unten
Sabine Giesbrecht-Schutte hat sich mehrfach mit Musikkultur und Musik im
Wilhelminischen Reich befaßt, einfühlsam gegenüber dem, was gemeinhin unter »Kitsch«
firmiert (vgl. z. B. S. Schutte 1987), kritisch vor allem gegen militaristische Tendenzen,
die auch ein Jahrhundert und zwei Weltkriege später frischfrommfröhlichfrei
fortwesen.
Ein beachtlicher wie beachtenswerter Teil dieser wilhelminischen Kultur waren die
Bildpostkarten. In ihnen konvergieren Tendenzen von oben wie von unten,
massenhafte Bedürfnisse mit obrigkeitlicher Aufsicht und Indienstnahme. Die
Postkarte ist im Gegensatz zum Brief offen und daher ohne Probleme von
jedermann und jederfrau auf dem Postweg und somit auch von der Zensur
überprüfbar1
Postkarten sind »von der Post zur Vereinfachung und Abkürzung des brieflichen Verkehrs
zugelassene offene Karten bestimmter Größe, die auf der rechten Hälfte der Vorderseite Raum
zum Aufkleben der Postwertzeichen und für die Anschrift enthalten, während die linke Hälfte
der Vorderseite und die Rückseite zu schriftlichen Mitteilungen benutzt werden können.«
(Handwörterbuch des Postwesens, Frankfurt a. M. 1953, S. 531, zit. nach Glaser/Werner, S.
327.)
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– die E-Mail hat nicht de jure, aber de facto fast denselben Status. Die Postkarte ist eine
Erfindung der Zeit: Heinrich von Stephan, der spätere »Generalpostmeister« des
Deutschen Reiches, hatte sie bereits 1865 vorgeschlagen, als eine Art Mitte im Hinblick
auf »Einfachheit und Kürze« (zit. nach Glaser/Werner, 327) zwischen Brief und
Telegramm. Bildungsvoraussetzungen fürs Schreiben wie Porto waren geringer
als beim Brief; die Postkarte ist insofern ein Stück medialer und vorwiegend
formaler Demokratisierung. Österreich begann 1869, der Norddeutsche Bund folgte
1870.
Das ursprüngliche nüchterne Formularblatt genügte nun freilich allenfalls den reduzierten
Informations-, nicht aber den entwickelteren Kommunikationsbedürfnissen der
»Postbenutzer« (die damals so hießen und noch nicht bloß »Kunden« waren und
als solche in der Regel so behandelt werden, wie es in Wahrheit meist Könige
verdienen würden). Wenn schon nicht viel zu sagen und zu berichten ist, dann doch
wenigstens bunt. Das Medium als Message selber zeichnet sich einmal mehr ab.
Vorgedruckte Mitteilungen erleichterten das Schreiben und reduzierten das zu
Schreibende.