- 155 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Hanns-Werner Heister
Soundtrack und Sozialpsychologie
Sprechen, Sang und Klang auf deutschen Glückwunschpostkarten zwischen Jahrhundertwende und Novemberrevolution

Postkarten-Erfindung: Oben und unten

Sabine Giesbrecht-Schutte hat sich mehrfach mit Musikkultur und Musik im Wilhelminischen Reich befaßt, einfühlsam gegenüber dem, was gemeinhin unter »Kitsch« firmiert (vgl. z. B. S. Schutte 1987), kritisch vor allem gegen militaristische Tendenzen, die auch ein Jahrhundert und zwei Weltkriege später frischfrommfröhlichfrei fortwesen.

Ein beachtlicher wie beachtenswerter Teil dieser wilhelminischen Kultur waren die Bildpostkarten. In ihnen konvergieren Tendenzen von oben wie von unten, massenhafte Bedürfnisse mit obrigkeitlicher Aufsicht und Indienstnahme. Die Postkarte ist im Gegensatz zum Brief offen und daher ohne Probleme von jedermann und jederfrau auf dem Postweg und somit auch von der Zensur überprüfbar1

1
Postkarten sind »von der Post zur Vereinfachung und Abkürzung des brieflichen Verkehrs zugelassene offene Karten bestimmter Größe, die auf der rechten Hälfte der Vorderseite Raum zum Aufkleben der Postwertzeichen und für die Anschrift enthalten, während die linke Hälfte der Vorderseite und die Rückseite zu schriftlichen Mitteilungen benutzt werden können.« (Handwörterbuch des Postwesens, Frankfurt a. M. 1953, S. 531, zit. nach Glaser/Werner, S. 327.)
– die E-Mail hat nicht de jure, aber de facto fast denselben Status. Die Postkarte ist eine Erfindung der Zeit: Heinrich von Stephan, der spätere »Generalpostmeister« des Deutschen Reiches, hatte sie bereits 1865 vorgeschlagen, als eine Art Mitte im Hinblick auf »Einfachheit und Kürze« (zit. nach Glaser/Werner, 327) zwischen Brief und Telegramm. Bildungsvoraussetzungen fürs Schreiben wie Porto waren geringer als beim Brief; die Postkarte ist insofern ein Stück medialer und vorwiegend formaler Demokratisierung. Österreich begann 1869, der Norddeutsche Bund folgte 1870.

Das ursprüngliche nüchterne Formularblatt genügte nun freilich allenfalls den reduzierten Informations-, nicht aber den entwickelteren Kommunikationsbedürfnissen der »Postbenutzer« (die damals so hießen und noch nicht bloß »Kunden« waren und als solche in der Regel so behandelt werden, wie es in Wahrheit meist Könige verdienen würden). Wenn schon nicht viel zu sagen und zu berichten ist, dann doch wenigstens bunt. Das Medium als Message selber zeichnet sich einmal mehr ab. Vorgedruckte Mitteilungen erleichterten das Schreiben und reduzierten das zu Schreibende.


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