- 150 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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Eine dritte wichtige Erkenntnis betrifft die Beanspruchung weiter Hirnregionen im Hören von Musik: die Wahrnehmung von Rhythmen führt zu einer ausgedehnteren Hirnaktivität, weite Bereiche werden aktiviert, und auch die Verbindung zwischen beiden Hirnhälften erfährt Verstärkung.

Ohne den Begriff des Transfereffektes überzustrapazieren, darf doch darauf hingewiesen werden, dass der Umgang mit Rhythmen offensichtlich sehr anregend auf den Menschen wirkt. Das Fach Rhythmik (das sich nicht ausschließlich aber doch schwerpunktmäßig mit dem Umgang mit Rhythmen beschäftigt) hat seinen allgemein-pädagogischen Wert immer betont und vielerorts wird heute behauptet, Musizieren mache intelligent. Bei aller Vorsicht vor einer Über-Interpretation, kann in diesem Zusammenhang doch festgehalten werden, dass der Umgang mit Musik – und besonders dem musikalischen Rhythmus – zu einer großräumigen Hirntätigkeit anregt.

7.3.4.  Einflussfaktoren musikalisch-rhythmischer Verarbeitung

Ob Musik (oder Rhythmus) nun mehr mit der rechten, der linken oder beiden Hirnhälften verarbeitet wird, gibt nicht (nur) die Organisation des menschlichen Gehirns vor, sondern ist von verschiedenen Faktoren beeinflusst und dadurch flexibel. Dass eine Musikstudentin in einer Gehörbildungsprüfung andere Strategien verfolgt als ein privater Mensch, der sich nach einem langen Arbeitstag in seinen Lieblingssessel setzt und einer CD lauscht, ist leicht nachvollziehbar. Die erstgenannte Situation erfordert distanziertes, analytisches Vorgehen, während die zweite Szene eher ein emotional-intuitives Hören impliziert. Und selbst wenn die Aufmerksamkeit einer Person durch ganz andere Vorgänge gebunden ist, hinterlassen Rhythmus und Metrum musikalischer Eindrücke dennoch Spuren: Isabelle Peretz weist darauf hin, dass jeder Mensch unwillkürlich Bewegungen zu Musik ausführt. Sie folgert daraus, dass es ein unterschwelliges, intuitives Wissen um metrische Zusammenhänge geben muss (vgl. Peretz 1990, S. 1201). In diesem Zusammenhang sei an das Prinzip der so genannten Zeitwahrnehmung, der unbewussten, nicht trainierbaren Verarbeitung von Dauern im Bereich von unter einer halben Sekunde erinnert (vgl. Abschnitt 6.1.3). Dies weist ebenfalls auf den Ablauf von subkortikalen Prozessen hin, die der verstandesmäßigen Steuerung nicht unterworfen sind.

Auch die Art, wie der Zugang zu Musik geschaffen wurde, hat Einfluss auf die Verarbeitungsstrategie. Gruhn unternahm einen Versuch mit einer Gruppe von Kindern, die lernen sollten, Melodien zu beurteilen, ob diese ›offen‹ oder ›geschlossen‹ seien. Eine Gruppe erhielt traditionellen Musikunterricht mit Hilfe verbaler Erklärungen, eine andere Gruppe improvisierte aktiv mit entsprechendem melodischem Material und verzichtete weitgehend auf Erläuterungen. Die erste Gruppe zeigte nach der Trainingsphase eine Mehraktivierung linkshemisphärischer Stirnhirn- und Schläfenregionen, die in Improvisation geschulten Kinder wiesen eine Mehraktivierung über dem rechtsseitigen Stirnhirn und beidseitigen Scheitelregionen auf (vgl. Altenmüller 2001; Altenmüller u. Gruhn 2002). Der beschriebene Versuch stellte zwar die Verarbeitungsprozesse melodischer Aspekte in den Vordergrund, es ist jedoch anzunehmen, dass ein entsprechend modifizierter Versuchsaufbau zu ähnlichen Ergebnissen im rhythmisch-metrischen Bereich käme.


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