- 187 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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abgeschlossenen motorischen und kognitiven Entwicklung wegen einfach sein müsste, erweist sich in der Praxis schnell als Trugschluss. Die ausgesprochen komplexen Vorgänge im aktiven Musizieren verlangen den Ausübenden sowohl auf der motorischen als auch der kognitiven Ebene viel ab. Lernprozesse gelingen nun umso erfolgreicher, je mehr sie sich an natürlichen Gegebenheiten von Entwicklungsprozessen orientieren. Diese Tatsache bezogen auf musikalisches Lernen darzustellen, soll Aufgabe des folgenden Abschnitts sein.

8.5.1.  Objektive Zeit

Die Wahrnehmung zeitlicher Abläufe orientiert sich im Kindesalter an hervorstechenden Merkmalen: hohes Tempo wird mit viel Zeit gleichgesetzt, Größe mit Alter assoziiert. Ein Verständnis für die umgekehrte Proportionalität von Tempo und Dauer (je höher das Tempo einer Aktion, umso geringer ist ihre Dauer) und das Wissen um die unveränderliche, von den in ihr geschehenden Abläufen unabhängige Zeit ist noch nicht vorhanden (vgl. Abschnitt 6.3). Diese Verwicklungen betreffen die Ordnung des traditionellen Notensystems in zentraler Weise: Das Gefüge der Notenwerte stützt sich auf genaue Proportionen, auf Dauern die durch Zeitpunkte fixiert sind und in verbindlich geregelten Beziehungen zueinander stehen.

Anschaulichkeit statt Abstraktion

Für den Prozess des Musiklernens im Kindesalter bedeutet dies, dass die kognitive Ebene rhythmischen Geschehens kaum vollständig erfasst werden kann. Die Kodierung der Dauern als Brüche (Viertelnote, Achtelnote usw.) ist dabei besonders problematisch. Häufig wird die Frage der Lehrkräfte ›Wie lang ist eine Viertelnote?‹ mit ›Vier Schläge!‹ beantwortet, weil der Begriff Viertelnote die Zahl vier assoziieren lässt. Selbst gut gemeinte Visualisierungen mit ganzen, halbierten oder anders zerteilten Kreisen helfen nur im Augenblick der konkreten Anschauung. Werden diese Hilfen wieder durch die herkömmlichen Notenzeichen ersetzt, wird schnell ersichtlich, dass kein dauerhafter Lernfortschritt stattgefunden hat.

Im Grundschulalter kann noch kein souveräner Umgang mit Vierteln, Halben oder anderen mathematischen Brüchen erwartet werden.

Neben der mehr theoretisch-rechnerischen Dimension (die natürlich aber Auswirkung auf die praktische Ausführung hat) ist das konkrete Handeln betroffen: Das Nicht-Verständnis umgekehrter Proportionalität sowie die besondere Aufmerksamkeit, die hervorstechenden Einzelmerkmalen gewidmet wird, ist problematisch: hohe Geschwindigkeit (beispielsweise von schnellen Spielbewegungen) wird mit viel Zeit gleichgesetzt, ein möglicherweise unspektakulär wirkender lang ausgehaltener Ton wird in seiner Quantität vielleicht unterschätzt (besonders Pausen werden – nicht nur von Kindern – sehr häufig zu kurz ausgeführt). Eine distanzierte, logische Schlüsse beinhaltende Betrachtungsweise entwickelt sich erst sehr allmählich.

Je jünger Kinder sind, umso eher muss damit gerechnet werden, dass ihre Aufmerksamkeit von einzelnen Details gefesselt wird. Der Einfluss individueller und situativer Gegebenheiten ist dafür verantwortlich, dass keine generellen Aussagen über die Zeiteinschätzung getroffen werden können.


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