- 188 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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Selbst für das Erwachsenenalter gilt die wahrnehmungpsychologische Konstante, dass die Reizdichte Einfluss auf die rückwirkende Einschätzung einer Dauer hat. Dieses Phänomen war als ›Subjektives Zeitparadox‹ in Abschnitt 6.1.3 beschrieben worden. Erwachsene sind jedoch eher in der Lage, ihr Wissen um das Wesen ›objektiver‹ Zeit (Uhr, Metronom, Grundschlag-Prinzip) nutzbringend anzuwenden. Wer mit Erwachsenen im Musikunterricht gearbeitet hat weiß allerdings, dass Fertigkeiten wie Rechnen oder Abstrahieren unter Umständen auch nur begrenzt weiterhelfen. Denn mit Rechnen allein ist noch keine angemessene Ausführung von Rhythmen gewährleistet. Die Rechenoperation muss in eine innerlich präsente Struktur umgewandelt werden, die dann auch noch mit motorischen Mitteln in eine Klanggestalt transformiert werden muss.

Da anschauliches Denken im Umgang mit den tradierten Notenwerten zu Verwirrung führt, muss ein entwicklungsangemessener Musikunterricht nach Wegen suchen, Rhythmus konkret und anschaulich erlebbar zu machen. Nicht umsonst tauchen im musikpädagogischen Umfeld umschreibende Bezeichnungen wie Renn-Note (Sechzehntel), Lauf-Note (Achtel), Geh-Note (Viertel) oder Schleich-Note (Halbe) auf, die die Hoffnung erwecken, ihr größerer Grad an Anschaulichkeit möge die Behaltensleistung erhöhen. Problematisch wird dieses Benennungssystem allerdings, wenn die Lehrkraft unterschwellig erwartet, dass das rechnerische System hinter den Benennungen verschiedener Bewegungsqualitäten verstanden wird. Auch Vorschulkinder sind schon in der Lage, unterschiedliche Tempi zu erfassen und zu benennen; dass ›Rennen‹ aber genau doppelt so schnell geschieht wie ›Laufen‹ oder ein Schritt im ›Schleichen‹ zweimal so lange dauert wie im ›Gehen‹, kann nur mit fortgeschrittenen Rechen- und Abstraktionsfähigkeiten erfasst werden.

Ein anderes System operiert mit den Bezeichnungen Einschlag-, Zweischlag-, Dreischlag- oder Vierschlag-Note (vgl. Ernst 1999, S. 10). Diese Art der Benennung rückt eine weitere Tatsache in den Blickpunkt: das System traditioneller Notenwerte hat immer den Bezug zu einem gleichmäßigen Grundschlag, es orientiert sich an einem Gerüst isochroner Bezugspunkte. Dieses Grundgerüst erklingt in der Regel aber nicht real, es ist meist nur in der inneren Vorstellung vorhanden. Zeitweise kann sich die rhythmische Struktur so vereinfachen, dass Rhythmus- und Grundschlag parallel verlaufen, dies wird aber längst nicht immer der Fall sein. Deutlichstes Zeichen dieses Grundgerüstes ist das Mitwippen mit dem Fuß, das häufig gänzlich unbewusst geschieht. Hier wird der abstrakte Grundschlag fühlbar und sichtbar, wird anschaulich. Da die motorische Entwicklung im Kindesalter aber eine eher geringe Geschicklichkeit der Füße bedingt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass Füße gezielt eingesetzt werden können, um rhythmisch-metrische Stabilität zu erwirken. Dagegen eignen sich insbesondere die oberen Extremitäten dazu (vgl. die Abschnitte 4.4.18.2.28.3.3), einen stabilen Grundschlag mit Hilfe von Klanggesten auszuführen – und so das Metrum aus der Abstraktion in die Anschaulichkeit zu führen.

Im Stadium des anschaulichen Denkens kann es hilfreich sein, den Grundschlag durch Klanggesten wie Patschen oder Klatschen sichtbar und spürbar zu machen.

Auch Notenwerte können veranschaulicht werden: verschiedene Systeme existieren, in denen jeder Notenlänge ein Name zugeordnet ist, der exakt deren zeitliche Ausdehnung spiegelt. So sind im System von Kodály (vgl. Szönyi 1973, S. 24) die


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