- 28 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (27)Nächste Seite (29) Letzte Seite (264)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

75 bis 80 Schlägen pro Minute an, starke Abweichungen davon werden durch Zusammenfassung bzw. Halbierung auf diesen Wert bezogen: »Jedenfalls erscheinen Werte wie 140 in der Minute gehetzt, überstürzt und solche von 40 oder 30 in der Minute so langsam, daß die Empfindung bereits unsicher wird, ob sie noch wirklich gleich sind« (Riemann 1903, S. 5). Hier klingen Aspekte von Gestaltpsychologie (vgl. Abschnitt 6.2) und Wahrnehmungspsychologie an (vgl. Abschnitt 6.1.3). Riemann beschreibt sehr treffend das Phänomen von Wechselwirkungen zwischen Dauer und Akzentuierung, zwischen Dynamik und Tempo: »Es sei aber gleich hier angemerkt, daß ein, wenn auch noch so geringes längeres Verweilen auf den den Ictus tragenden, den Hauptrhythmus markierenden Zeiten auch für solche künstlicheren Bewegungen in lauter gleichen Zeitteilen Bedürfnis bleibt; das Wort Accent hat auch im heutigen Sprachgebrauche den Doppelsinn der Hervorhebung durch Verstärkung und (irrationale) Verlängerung« (ebd., S. 10), oder: »Mit dem crescendo der metrischen Motive ist stets eine (selbstverständlich geringe) Steigerung der Geschwindigkeit der Tonfolge und mit dem diminuendo eine entsprechende Verlangsamung verbunden« (Riemann 1884, S. 11).

Auftaktigkeit als fixe Idee

Über diese grundlegenden Gedanken zum Wesen von Zeitgestaltung hinaus entwirft Riemann allerdings eine äußerst eigenwillige Theorie. Er stellt das Prinzip des Akzentstufentaktes (vgl. Abschnitt 3.2.5) in Frage, weil für ihn das Motiv oder Taktmotiv das Maß aller Dinge in der von ihm so benannten ›Rhythmik‹ ist:

Das idealtypische Motiv – so Riemann – beginnt grundsätzlich mit einem langen, energischen Gestus des Anhebens, es überspielt den Taktstrich, erreicht im Taktbeginn sein Intensitätsmaximum und verklingt danach. Die Theorie des Motivs ist der Gegenstand der Rhythmik (zitiert nach Seidel 1998, Sp. 302).

Riemann versteigt sich zu der These, dass allein auftaktige Wendungen ästhetisch seien. So erscheint seine »Musikalische Dynamik und Agogik« (Riemann 1884) auch im Kontext so genannter Phrasierungsausgaben. Diese Ausgaben sind mit »unzweideutige[n] Zeichen für die motivische Gliederung, die Phrasirung« (ebd. S. 2) versehen. Unter Einbeziehung der Gewichtsverhältnisse innerhalb der Takte und deren motivischer, inhaltlicher Ausfüllung entwickelt Riemann das System der achttaktigen Periode mit Vordersatz und Nachsatz, innerhalb derer die Takte 1, 3, 5 und 7 als leicht, die Takte 2, 4, 6 und 8 als schwer gelten, die erste Zweitaktgruppe als aufstellend, die zweite als antwortend bezeichnet wird (vgl. Riemann 1903, S. 13). Diesen, den Satzbau betreffenden Teil seiner Theorie nennt Riemann Metrik. Der Terminus Metrum meint dabei aber nicht mehr das innere Taktgewicht, sondern das äußere; für diese Relation der Taktschwerpunkte innerhalb eines Satzes oder einer Periode verwendet er allerdings auch die Termini »Grundrhythmus« bzw. »rhythmisches Grundmaß« (ebd. S. 12).

Viele von Riemanns Ausführungen erscheinen aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollziehbar, beispielsweise wenn er eine Sarabande von Francois Couperin (um 1630 – 1701) nach seiner Idee auftaktig interpretiert wissen will (Notenbeispiel ebd.,


Erste Seite (i) Vorherige Seite (27)Nächste Seite (29) Letzte Seite (264)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 28 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus