- 108 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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6.2.  Rhythmuswahrnehmung zwischen Diskriminationsleistung und Gestaltwahrnehmung

Zeit und Rhythmus als kongruente Funktionsbereiche

Bisher hat sich das vorliegende Kapitel auf die Psychologie der Zeit konzentriert und Überlegungen hinsichtlich des Phänomens Rhythmus nur am Rande thematisiert. Dennoch war spätestens seit dem zweiten Kapitel, Abschnitt 2.3 ›Zeit und Rhythmus‹ davon ausgegangen worden, dass beide Phänomene eng verwandt, wenn nicht sogar deckungsgleich sind. Nicht nur in der Psychologie wird der Begriff Rhythmus (oft ergänzt durch den Zusatz ›im weitesten Sinne‹) sehr ausgedehnt gefasst. Er subsumiert unterschiedliche Phänomene (vgl. auch die Darstellung der verschiedenen Ausprägungen der Phänomene Rhythmus, Metrum und Takt durch die Musikgeschichte in Abschnitt 3.2). Ein weiterer Anhaltspunkt für die Gleichsetzung von Zeit und Rhythmus liegt in gemeinsamen Verarbeitungsmechanismen begründet: Rhythmus ist ein Phänomen, das sich in der Zeit abspielt. Für die Verarbeitung von Zeit ist betont worden, dass aus rein physikalischen Erscheinungen erst in der kognitiven, gedächtnisgestützten (Re-)Konstruktion Bedeutungen entstehen. Gleiches gilt auch für Rhythmen.

Sowohl Zeit als auch Rhythmus sind innere (Re-)Konstruktionen.

Dabei wird das Verstreichen von Zeit, wie oben erläutert, an der Ereignisdichte gemessen. Folgen von Reizen werden in der subjektiven Wahrnehmung zu Mustern bzw. Rhythmen strukturiert (vgl. das Phänomen der subjektiven Rhythmisierung in Abschnitt 6.1.3). Um Zeit wahrzunehmen muss sie strukturiert sein (bzw. innerlich strukturiert werden), strukturierte Zeit ist aber gleichzeitig auch Rhythmus ›im weitesten Sinne‹.

Wahrgenommene Zeit hat Struktur, strukturierte Zeit ist Rhythmus.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass in der Sportphysiologie die räumlich-zeitliche Ordnung von Bewegungen als Rhythmus bezeichnet wird – egal ob es sich dabei um zyklische oder azyklische Muster handelt (vgl. Abschnitt 4.4.3). Auch im Bereich der Musik ist dieses ›liberale‹ Verständnis von Rhythmus zu finden: Im 20. Jahrhundert umschließt der Begriff Rhythmus neben der Assoziation mit Symmetrie und Ordnung auch die Existenz von Freiheit und Irregularität (vgl. Abschnitt 3.2.8). Somit bezieht sich der Begriff Rhythmus – allgemein – auf die zeitliche Organisation von Musik überhaupt.

Rhythmus kann allgemein als die Ordnung in der Zeit verstanden werden.

Ein letztes Argument für die Überschneidung von Zeit- und Rhythmuserfahrung betrifft die innere Uhr, den internen Zeitgeber. In Abschnitt 6.1.3 war ausgeführt worden, dass die Vermutung nahe liegt, dass ein – wie auch immer gearteter – Oszillator verantwortlich sein könnte für die reflexhafte, subkortikale Ebene von Zeitverarbeitung. Wenn es diesen Oszillator tatsächlich gibt, ist davon auszugehen, dass er als interner Taktgeber seinem Namen gerecht wird und mit regelmäßigen Impulsen arbeitet. Somit beruht zumindest der unbewusste Teil der Zeitverarbeitung auf einer zyklischen (also im engeren Sinne rhythmischen) Funktion.


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