- 9 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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zum einen prägen ideelle Faktoren die Wahrnehmung der Zeit, zum anderen rein praktische. Das Beispiel des christlichen Weltbildes macht deutlich, dass die Idee von der linearen, gerichteten Zeit die Erfahrung von Zeitknappheit und Zeitdruck mit sich bringen kann. Wo aus dem Kreislauf eine Linie wird, wird Flexibilität zu Verbindlichkeit. Rücken wiederum Aspekte wie Auferstehung und Ewigkeit in den Vordergrund, kann Gelassenheit im Umgang mit der Zeit die Folge sein. Auf der anderen Seite verursacht die Möglichkeit genauester Zeitmessung selber einen gewissen Zwang. Denn mit der Verbreitung der Uhren gehen die Disziplinierungsschübe der Industrialisierung (Zeit wird zu Geld) und Hochtechnisierung (Zeit wird zum minimalisierten Raster) einher. Die daraus resultierenden Einstellungen beeinflussen wiederum die subjektive Befindlichkeit im Umgang mit der Zeit.

Zeit und Raum

Peter Gendolla betont in seiner Darstellung der Zeiterfahrung, dass Zeit nicht ohne räumliche Komponente erfahrbar sei (Gendolla 1992, S. 18ff.). Etymologisch verweisen die Grundworte ›tempus‹ oder ›templum‹ auf die Bedeutung von Schneidung bzw. Kreuzung, im Sinne von räumlicher Teilung (vgl. Cassirer 1987, S. 132). Auch die indogermanische Wurzel des Wortes Zeit, nämlich »da(i)«, geht auf Abschnitte bzw. Abgeteiltes zurück (vgl. Duden Etymologie S. 778). Das Denken in Mythos und Religion ist geprägt durch diese Sichtweise der Verflechtung von Raum und Zeit. Wenn Gendolla das Schaffen von besonderen Bezirken, die das Heilige vom Profanen trennen, beschreibt, hebt er die Aspekte von Abgrenzung und Wiederholung hervor. Hier wird deutlich, dass dieses Denken von der Zeit schon das Empfinden von Rhythmus beinhaltet: »Der Tempel ist zuallererst ein vom Weisen, Augur, Priester mit einem Stab in den Boden gezeichneter Bezirk, der einen entsprechenden Himmelsabschnitt definierte, in dem die Gestirne oder der Vogelflug beobachtet werden konnten, wie sie sich wiederholen.« (Gendolla 1992, S. 19, Hervorhebung im Original). Wie bedeutsam die Aspekte von Raum, Zeit oder auch Wiederholung für ein vertieftes Verständnis des Phänomens Rhythmus sind, war in den vorigen Abschnitten schon dargestellt worden und wird in folgenden Kapiteln wieder aufgegriffen werden (vgl. Abschnitt 3.1 oder auch 4.4.3).

Zeit wird durch (wiederholte) Bewegung im Raum erfahrbar.

Die Verflechtung von Zeit, Raum und Bewegung macht Gendolla (1992) noch einmal deutlich, wenn er unter der Überschrift »Punktzeit« Aspekte der modernen Industrie- und Technologiegesellschaft beschreibt. Die Rasterung, d. h. Kodierung von Informationen in einem unvorstellbar kleinen Netz aus Punkten in Zeit und/oder Raum, eröffnete neue Dimensionen der Informationsvermittelung. Die Auswirkungen der Möglichkeiten von Telegrafie, Fotografie oder Telefon auf die Körperbewegung des Menschen werden treffend beschrieben:

Waren es einmal die Reichweiten der Fernsinne Auge und Gehör, die den Kommunikationsabstand der Körper definierten, so wird diese Distanz durch die Umsetzung von Schall und Licht in elektrische Signale immer mehr ausgeweitet, schließlich beliebig groß. Umgekehrt müssen Auge und Gehör mitsamt dem Körper, in dem sie stecken, immer weniger bewegt werden, um


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