1.1.3. Auswirkungen des Einsatzes der Mehrspurtechnik für die Rock- und
Popmusik
Die durch das Multitrack-Verfahren gegebenen Produktionsbedingungen veränderten das
Entstehen, die Ästhetik und die Rezeption von Musik – mit Rückwirkungen auf die
Darbietung im Konzert (Blaukopf 1994). Prinzipiell gilt dies für alle Musikrichtungen,
die vom Medium Schallplatte Gebrauch machten. Neben der schon von Beginn an mit
den Möglichkeiten der technischen Klangbearbeitung arbeitenden Elektronischen
Avantgarde betrifft dies aber insbesondere die Populäre Musik: Rock und Pop sind ohne
die Möglichkeiten des Mehrspurstudios nicht denkbar (Gracyk 1996). Der folgende
Abschnitt beschreibt einzelne Aspekte der Beeinflussung von Musik und Musikpraxis
durch die elektronischen Aufnahmemedien.
›Sound‹ als Primärfaktor
Mit der Vielfalt der Aufnahme- und Nachbearbeitungsverfahren stieg die Bedeutung der
akustischen Aufbereitung der eingespielten Musik. Klang und Klangfarbe, vormals
meist als »Sekundärfaktor der Musik« (Rötter 1989, 129) betrachtet, rückten
zusehends in den Vordergrund. Zum primären Parameter von Rock/Pop-Aufnahmen
wurde deren Sound, wobei der Begriff aber über den rein klangfarbenbezogenen
Bereich hinaus geht. Der Sound einer Aufnahme entsteht neben der Anwendung
spezieller Aufnahmetechniken und technischer Manipulationen auch durch den
spezifischen Umgang mit ›klassischen‹ Parametern wie Melodie, Harmonie
und Rhythmus (vgl. Théberge 1989; Gracyk 1996; Schwarz 2000; Schneider
2002):
Sound ist nicht der Klang der Stimme, der Instrumente, sondern diese mit
adäquater Sing- und Spielweise genutzt, mit spezifischen Effekten versehen,
im Studio als Instrument verarbeitet und selbstverständlich durch das
musikalische Gefüge und Arrangement bestimmt (Jauk 2002, 142).
Wie Brian Eno feststellt, wird der Sound einer Aufnahme zum Erkennungsmerkmal:
One of the interesting things about pop music is that you can quite often
identify a record from a fifth of a second of it. You hear the briefest snatch
of sound and know, ›Oh, thats »Good Vibrations«, or whatever.‹ A fact of
almost any successful pop record is that its sound is more of a characteristic
than its melody or its chord structure or anything else. The sound is the
thing that you recognize (Eno 1986; zit. n. Théberge 1989, 99).
Sound als Merkmal der stets an die Lautsprecherübertragung gebundenen Rock- und
Popmusik war schon bei Aufnahmen der Vor-Mehrspurära und im Live-Kontext von
Bedeutung gewesen: immer wenn Verstärkungstechnik – meist in Verbindung mit
speziellen Spieltechniken oder auch mit gewollten Fehlbedienungen (Wilson 1997) des
Instrumentariums – gezielt zur Entstehung eines bestimmten Klangbildes eingesetzt
wurden (vgl. Waksman 1999, 14ff/113ff). Mit den Möglichkeiten des Mehrspurstudios
zur Klangmanipulation und der Verfügbarkeit spezieller Aufnahmetechniken
wurde die Soundgestaltung erweitert und perfektioniert.
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