- 187 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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der "verschlissen dicht" vom Himmel herunterhängt: "so schmerzt eine hellgraue Wolkendecke in empfindlichen Augen" (Adorno, Mahler 152). Die Fanfare, die den "Vorhang" am Ende des Satzes zerreißt, entsteht aus einem abwärtsgerichteten Quartmotiv, das sich in Takt drei zunächst als "unsinnliche Schärfe" des Klanges der kleinen Flöte geltend macht. Das Motiv setzt sich in der "Pianissimo-Fanfare" zweier Klarinetten im "unteren, fahlen Register" fort, begleitet von einer "schwächlichen Baßklarinette ... matt, als ertönte es hinter dem Vorhang, wollte vergebens hindurch und hätte nicht die Kraft dazu" (Adorno, Mahler 152).

     Aus "sehr weiter Entfernung" erklingt, Mahlers Forderung in der Partitur zufolge, auch die erste Trompetenfanfare. Erst am Ende des Satzes bricht die Fanfare sechs Takte vor Wiedereintritt der Tonika d "in den Trompeten, den Hörnern, den Holzbläsern durch, außer aller Proportion zum Orchesterklang zuvor, auch zu der Steigerung, die zu ihr geleitet" (Adorno, Mahler 152-153). Mit gleichsam "körperlichem Ruck" dehnt sich die Musik. Das Zerreißen des Vorhangs erfolgt "von drüben, jenseits der eigenen Bewegung der Musik. In sie wird eingegriffen. Für ein paar Sekunden wähnt die Symphonie, es sei wirklich geworden, was ängstlich und verlangend ein Leben lang der Blick von der Erde am Himmel erhoffte". Später vergleicht Adorno den Durchbruch, der mißlingt, mit dem Messias, der in der Welt ausblieb (Adorno, Mahler 154). Seiner "Verheißung" habe Mahlers Musik die Treue gehalten. "Verheißt alle Musik mit ihrem ersten Ton, was anders wäre, das Zerreißen des Schleiers, so möchten seine Symphonien endlich es nicht mehr versagen, es buchstäblich vor Augen stellen" (Adorno, Mahler 153).

     Nach Adorno gehört die Fanfare der ängstlichen Erwartung und der "Erfüllung" an; ebenso dem Übergang vom Träumen zum Wachen. Am Beispiel der Fanfare vier Takte vor dem Trio des Scherzos aus Beethovens Siebter Symphonie entwickelt er das folgende Bild: "So mag ein Halbwüchsiger um fünf Uhr in der Früh geweckt werden von der Audition eines überwältigenden niederfahrenden Lauts, auf dessen Wiederkunft zu warten der, welcher ihn eine Sekunde zwischen Wachen und Schlafen gewahrte, niemals mehr verlernt" (Adorno, Mahler 153).

     In Adornos subjektiver Sprache zeichnet sich ein Verständnis der Fanfare ab, das wir in den nachfolgenden Interpretationen des für die Musik im 20. Jahrhundert bedeutenden Phänomens "Signal" vermissen. Das Signal wird zu einem "Durchbruch von innen". Der "Riß im Vorhang" (am Ende des ersten Bildes von Schönbergs Drama mit Musik opus 18 reißt ein wirklicher Vorhang!), von Adorno geschichtlich als Rebellion gegen den "Schein des gelungenen Werks" aufgefaßt, markiert eine Grenzerfahrung des Bewußtseins. Die Grenze zwischen "Innerlichkeit" und "objektivem Weltgeschehen" hört, indem sie als Grenze bewußt wird, auf, Grenze zu sein.


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