- 194 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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Von einer Bemerkung Freuds war Mahler sehr beeindruckt: "Ich nehme an, daß Ihre Mutter Marie hieß. Ich möchte es aus verschiedenen Andeutungen in ihrem Gespräch schließen. Wie kommt es dann, daß sie jemanden mit einem anderen Namen, Alma, geheiratet haben, wenn doch Ihre Mutter offensichtlich eine dominierende Rolle in ihrem Leben spielte?" Da erzählte ihm Mahler, daß der Name seiner Frau Alma Maria sei, daß er sie aber Marie nenne! Sie war die Tochter des berühmten Malers Schindler, dessen Standbild im Wiener Stadtpark steht; so spielte wohl auch in ihrem Leben ein Name eine Rolle. Dieses analytische Gespräch übte offenbar eine Wirkung aus, da Mahler seine Potenz wiedergewann und die Ehe bis zu seinem Tode, der leider schon ein Jahr danach erfolgte, glücklich war.

      Im Laufe des Gesprächs sagte Mahler plötzlich, daß er jetzt verstünde, warum seine Musik bei den edelsten Stellen, gerade bei denen, die von den tiefsten Gefühlen inspiriert seien, nie die angestrebte Vollkommenheit erreichen könne, weil irgendeine vulgäre Melodie dazwischentrete und alles verderbe. Sein Vater, anscheinend ein brutaler Mensch, hatte seine Frau sehr schlecht behandelt, und als Mahler noch ein kleiner Junge war, hatte sich zwischen ihnen einmal eine besonders peinliche Szene abgespielt. Dem Kleinen war es unerträglich geworden, und er rannte von zu Hause fort. Doch in demselben Augenblick ertönte gerade aus einem Leierkasten das bekannte Wiener Lied "Ach Du lieber Augustin". Mahler meinte nun, von dem Moment an hätten sich in seiner Seele tiefe Tragik und oberflächliche Unterhaltung unlösbar verknüpft, und eine Stimmung zöge unweigerlich die andere mit sich.

(Jones, Leben und Werk von Sigmund Freud II,103-104).


In seinem Aufsatz "Das Schöne an Mahler" bemerkt Dieter Schnebel, daß sowohl die für Mahler bezeichnende "Gleichzeitigkeit von unverbundenen Gestalten als auch ihre zeitliche Reihung wie in freier Rede" der freien Assoziation gleichen. Daß Mahler in solcher Weise frei assoziierend komponiert, führt


zum Außerkraftsetzen der inneren Zensur und erschließt das Treiben der seelischen Vorgänge ... in musikalischer Transformation. Und es bedeutet die Möglichkeit von Erinnerung. Wie in den seelischen Vorgängen das Unbewußte empordrängt und darin sowohl Vergangenes heraufkommt, Erinnerung geschieht, als auch - wie immer verschlüsselt - Bilder der Gegenwart und Ahnungen von inskünftig Zukommendem erscheinen, so ist auch der Assoziationsstrom von Mahlers Musik voll der Erinnerungen und Ahnungen. Was dereinst kritisch als Plagiieren denunziert wurde, heute als Kunst des Zitierens bewertet wird, ist schlicht musikalisches Erinnern - und es unterliegt den gleichen Mechanismen wie das verbal Psychische: Entstellung, Verschiebung, Verdeckung - und Be-schönigung.

(Schnebel, "Das Schöne an Mahler" 210)


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