- 35 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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Die im September 1944 in Los Angeles abgeschlossene Arbeit "Komposition für den Film" steht im thematischen Zusammenhang des Kapitels "Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug" der von Max Horckheimer und Theodor Wiesengrund Adorno verfaßten und 1947 im Querido Verlag in Amsterdam veröffentlichten Dialektik der Aufklärung (Horckheimer und Adorno 128). In den Jahren zwischen 1940 und 1948 entsteht, ebenfalls im amerikanischen Exil, die Philosophie der neuen Musik: eine bewußt polemisch überspitzte Darstellung der kompositorischen Antipoden Arnold Schönberg und Igor Strawinsky. Theodor Wiesengrund Adorno wertet sie als Exkurs zur Dialektik der Aufklärung.

     Betonen Adorno und Eisler in "Komposition für den Film" in ideologiekritischer Absicht die Differenz zwischen Musik und Bewegung, so hebt Adorno in der Philosophie der neuen Musik die Nähe der hochexpressiven freitonalen Kompositionsweise Arnold Schönbergs der Jahre um 1910 zu menschlichen Bewegungen hervor. In Schönbergs Kompositionen, als deren streitbarer Verfechter Adorno operiert, ist der "Komposition für den Film" zufolge alle Musik "gleich nah zum Mittelpunkt" (Adorno und Eisler 94). Mittelpunkt aber ist das Selbst. Als Ausdruck seelischer Regungen reagiert die Musik zum Monodram Erwartung auf individuelle Körperbewegungen und Gesten. Die musikalischen Bewegungskompositionen der frühen Musikdramen tendieren zu individualisierenden Bewegungsprotokollen. Sie eröffnen die Möglichkeit einer umfassenden Analyse der unbewußten leib-seelischen Regungen eines Subjekts in der gesellschaftlichen Isolation.

     Die Auflösung der überlieferten ästhetischen Formen steht am Anfang der Wiederentdeckung einer Klangrede und Körpersprache übergreifenden musiksprachlichen Syntax. Musik und Bewegung brechen mit der gesellschaftlichen Konvention und stellen sich auf die Seite eines äußerlich verstummenden Subjekts. Die Emanzipation der Klangfarbe und des Geräuschs öffnet Zugänge zum Innenraum seiner Empfindungen und Bewegungsassoziationen. An die Stelle der gemeinschaftlichen Musik- und Tanzformen tritt ein nach Farb- und Empfindungsnuancen differenzierender musikalischer Augenblick. In Verbindung mit der rhythmischen Komposition erhalten Körperbewegung und Gestik einen neuen und individuellen ästhetischen Wert. Die Befreiung von Konsonanz und Dissonanz aus dem Regelgefüge des klassischen Tonsatzes und der Harmonielehre entspricht der Lösung des einzelnen aus den Strukturen gesellschaftlicher Konformität. Sie ermöglicht zugleich zu kleinsten Körperregungen simultane musikalische Spannungs- und Entspannungsvorgänge.

     Die Inhalte elementarer musikalischer Gestaltungen mit Klangräumen und Körperbewegungen - Angst und Einsamkeit - stehen stellvertretend für die affektiven Regungen, die der kulturgeschichtliche Sublimierungsprozeß auf das Individuum


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