- 36 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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überträgt. Bei der Auflösung traditioneller Formen vermißt der einzelne die gewohnten musik- und körpersprachlichen Strukturzusammenhänge. Den fragmentarischen Gestaltungen mit Musik und Bewegung ist der Drang zur Regression im Sinne der Wiederherstellung der gewohnten Formen immanent. Sie sensibilisieren zugleich für die Wahrnehmung innerer Beziehungen musikalischer Symbole zu elementaren körpergebundenen Raum- und Bewegungserfahrungen der Einsamkeit.

     Musik und Subjekt sind nach dem Bruch der kompositorischen Formen als Ausschlag "negativer Erfahrung" identisch. An die Stelle der fiktiven Leidenschaften treten "leibhafte Regungen des Unbewußten, Schocks, Traumata". Sie gelten dem "realen Leiden" (Adorno, Philosophie der neuen Musik 43). Der romantische Ausdruck der Gefühle nähert sich dem Wissen von den psychischen Vorgängen an. Er spitzt sich auf das "psychoanalytische Traumprotokoll" zu (Adorno, Philosophie der neuen Musik 44). Nach der Überwindung der ästhetischen Konvention bedürfen Musik und Subjekt keiner Vermittlung mehr. Die Form der Montage ist den fragmentarischen Kompositionen fremd. Sie folgen "der jähen Geste und Reglosigkeit des Leibes". Ihr Rhythmus ist dem "von Wachen und Schlafen" nachgebildet (Adorno, Philosophie der neuen Musik 54), die Frau aus Arnold Schönbergs Monodram Erwartung "... der Musik gleichsam als analytische Patientin überantwortet" (Adorno, Philosophie der neuen Musik 47).

     Der verbreitete Widerstand gegen die neue Musik stellt sich in Analogie zum Widerstand gegen die Aufdeckung neurotischer Symptome in der psychoanalytischen Therapie dar. Die im Verlaufe kulturhistorischer Entwicklungen entstehenden Musik- und Tanzformen repräsentieren wie Symptome ursprünglich inhaltlich bestimmte und in kulturhistorischen Entwicklungen verdrängte Triebe und Triebkonflikte. Die Auflösung musikalischer Formen durch Entwicklungslinien der freitonalen Kompositionsweise entspricht der psychoanalytischen Aufklärung der hinter den Symptomen verborgenen Affekte und Triebkonflikte. Sie erscheinen nach Auflösung der traditionellen kompositorischen Formen als tiefenpsychologische musikalische Bewegungsanalysen.



2.4 "Momentformen", Mythologie und Angstverarbeitung


Im 17. Jahrhundert entsteht das Substantiv Moment als Neutrum aus dem lateinischen momentum in der Bedeutung "bewegende Kraft, Ausschlag". Es geht auf lateinisch movere, bewegen, zurück und bedeutet eigentlich "Bewegung", wird dann speziell "im Sinne von 'Übergewicht', das bei gleichschwebendem Waagebalken den


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