- 76 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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Mädchen zu töten. Die Tanzenden drängen sie in der Mitte der Spirale in ein Loch und begraben sie lebendig. Ihr Gesang übertönt die Schreie der Hainuwele (Jensen, Hainuwele 61).

     Die Spirale als Grundriß gilt seither als Tor zur Göttin der Unterwelt. Sie sichert die "menschliche Existenzform" derjenigen, "die da durchkommen". Die Spirale ist der Linienreflex der zugrundeliegenden mythologischen Idee. Das griechische Labyrinth aber wird "1. als mythischer Bau geschildert, 2. getanzt und 3. als eine Spirallinie dargestellt" (Kerényi, "Labyrinth-Studien" 235).

     Die Bewegungsfiguren Labyrinth und Spirale verbinden die Schicksale der Hainuwele und der Ariadne, der "Herrin des Labyrinths". Sie erhält nach einer Aufzeichnung aus der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends vor Christus in kretischer Schrift Honig zum Opfer. Hermann Kern führt den antiken Text als Beleg für die früheste Erwähnung des Labyrinths an. Er findet sich auf einem mykenischen Tontäfelchen, "das in Knossos gefunden wurde, in die Zeit um 1400 v.Chr. datiert wird und in Linear-B-Schrift einen Text aufweist, für den folgende Übersetzung vorgeschlagen wurde: 'Ein Honigtopf für alle Götter/ Ein Honigtopf für die Herrin des Labyrinths'"(Kern, Labyrinthe 17). Offensichtlich handelt es sich um ein Verzeichnis von Opfergaben. Die Vorstellung vom Labyrinth als einer Kultstätte liegt nahe.

     Kern weist ausdrücklich auf die Möglichkeit eines Tanzplatzes mit labyrinthförmiger Gangführung entsprechend der Zeichnung eines etwa gleichzeitigen Tontäfelchen von Pylos hin. Die Frage, ob Ariadne die genannte "Herrin des Labyrinths" sei, ist nicht mit Sicherheit zu beantworten. Kerényi erklärt, die Herrin des Labyrinths sei nicht allein Herrin eines Tanzes oder eines Tanzplatzes. Die griechische Sage machte die von den Griechen Ariadne genannte zu einer Königstochter, die sich über den Tanz und über den Tanzplatz freute. Ursprünglich war sie die Herrin eines Totenreiches, das mit gutem Ausgang "ertanzt und durchtanzt" wurde. "Die kretische Urfigur des Tanzes war eine vielgängige Spirale, deren Tänzer - der Vortänzer einer Schar - im Mittelpunkt kehrt macht und parallel mit dem Eintanzen wiederum hinaustanzt" (Kerényi, "Vom Labyrinthos zum Syrtos" 284). Kerényi betrachtet beide, Hainuwele und Ariadne, als Persephonegestalten.


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