- 83 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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Ariadnefaden führt sie vielmehr durch ein Labyrinth von Erinnerungen und Empfindungen. Dem sich erinnernden Protagonisten des Romans hilft die erinnerte Musik, eine vergangene, schmerzlich erlebte Situation zu vergegenwärtigen.

     Schuberts Musik zur Winterreise nimmt den Wanderer gleichfalls bei der Hand und führt ihn durch das Labyrinth seiner Empfindungen und Erfahrungen von Angst und Einsamkeit. In der Bewegungserfahrung des Phobikers wie Freud sie beschreibt, fehlt der klingende Leitfaden. Der sich Ängstigende ist allein auf die körperlichen Symptome seiner seelischen Befindlichkeit gestellt, die ihm, da er sie ohne inneren Klang erlebt, fremd, sinnlos und bedrohlich erscheinen. Zur Erinnerung an die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens hat die Musik von je her eine enge Beziehung . Sie ist die flüchtigste der Künste und muß immer aufs neue erinnert und aktualisiert werden. Mit der ihr eigenen Erfahrung der Vergänglichkeit eignet sie sich zum Spiegelbild der menschlichen Angst vor dem Tode.



1.3 Formtendenzen in Alban Bergs Oper Wozzeck


Historisch betrachtet tritt die Todesangst in der Musik am Beginn des 20. Jahrhunderts in ein prinzipiell neues Stadium. In Alban Bergs Oper Wozzeck erhalten historische Tanzformen besondere Bedeutung. Sie verlieren ihren Bezug zu äußeren, stilisierten Bewegungsfolgen und sind nicht mehr allein Orientierungshilfen in der Einsamkeit und bei der Suche nach dem Selbst, sondern Spiegelbilder der seelischen Befindlichkeit von Individuen in der Verzweiflung, der Einsamkeit und der Angst. Die musikalischen Satzstrukturen nehmen Bewegungserfahrungen der Angst in sich auf und erhalten den höchsten Grad der rhythmischen Komplexität, da sie nun auch einander widersprechende seelische Antriebsimpulse abbilden.

     Alban Bergs Oper Wozzeck, geplant seit 1914, entstanden zwischen 1917 und 1922, 1925 in Berlin unter der Leitung Erich Kleibers uraufgeführt, verbindet Einflüsse der Moderne von Debussys Peléas et Mélisande aus dem Jahr 1902 über Strauss' Elektra und Schrekers Der ferne Klang bis hin zu Schönbergs Erwartung: ein vielschichtiges und eigenständiges Werk, das als Musikdrama und Literaturoper auf das Musiktheater des 20. Jahrhunderts entscheidenden Einfluß nimmt. Berg richtet das Libretto auf der Grundlage des von Paul Landau herausgegebenen Dramenfragments Woyzeck von Georg Büchner ein. Nach Schönbergs Auflösung der Funktionsharmonik und der sich abzeichnenden Entwicklung zur Zwölftonmusik steht dem Schönberg-Schüler Alban Berg ein neues, integrierendes Form- und Gestaltungsprinzip zur Verfügung.


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