- 84 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
  Erste Seite (I) Vorherige Seite (83)Nächste Seite (85) Letzte Seite (215)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 



Die Bedeutung von Büchners Dramenfragment wird unmittelbar vor Ausbruch und während des Zweiten Weltkriegs von einer Theateravantgarde erkannt, die sozialkritischen Realismus, Expressionismus und offene Dramaturgie miteinander zu verbinden sucht. Berg kürzt die Textvorlage und richtet sie in drei Akten zu je fünf Szenen ein. Der losen Abfolge der Szenen setzt er eine Komposition entgegen, die auf klassische Formen zurückgreift. Die erste Szene, ein Gespräch zwischen Wozzeck und dem Hauptmann, gestaltet er als Folge von Tanzsätzen: Präludium, Pavane, Kadenzen, Gigue und Gavotte mit doubleartigen Wiederholungen (Vgl. Danuser, Die Musik des 20. Jahrhunderts 89).

     Die folgenden vier Szenen des ersten Aktes charakterisieren jeweils eine Hauptfigur des Dramas in Bezug auf den Titelhelden. Nach Ulrich Krämer verwendet Berg "historisch fest umrissene Formcharaktere", um seine Opernfiguren Gestalt annehmen zu lassen. Jeder Person ordnet er eine musikalisch artikulierte Form zu, die "in Beziehung zu deren besonderen Wesensmerkmalen gesehen werden muß" (Krämer, "Die Suite als Charakterstudie des Hauptmanns in Alban Bergs Wozzeck" 50).

     Eine "Symphonie" in fünf Sätzen begleitet die Entscheidung während des zweiten Aktes. Der dritte Akt führt die Katastrophe in fünf "Inventionen" vor. Doch bildet das kompositorische Formschema nur eine tiefliegende, im Falle der Tanzformen zu Beginn der Oper selbst der musikalischen Analyse kaum mehr zugängliche Schicht des Werkes. Man hört von der rhythmischen Charakteristik der historischen Tänze des ersten Aktes so gut wie nichts. Wozzecks Schicksal steht von vorn herein im Vordergrund.

     Dennoch verwendet Berg in einer zweiten, die klassischen Formen überlagernden Schicht der Komposition Walzer und Ländler als populäre Tänze, die er, Schönbergs Zwölftonkompositionen der frühen zwanziger Jahre vergleichbar, ins Labyrinthische und Skurrile umdeutet und tendenziell auflöst. Wozzecks Angst findet in Walzerfragmenten und geschlossenen Walzern ihren Ausdruck. Sie stellen sich seiner Bewegungslosigkeit entgegen und lassen seine wenigen erstarrten Bewegungsmuster als verdinglicht erkennen. Die Entfremdung zwischen den Personen, ihren Bewegungscharakteren und den sie umgebenden bürgerlichen Gesellschaftsstrukturen spiegelt sich in der Stilisierung der Tänze.

     Trotz der Gemeinsamkeiten verändert sich das Verhältnis der Musik zur Körperbewegung und Gestik in Bergs Wozzeck im Vergleich mit Schönbergs frühen Musikdramen entscheidend. Die Emotionen und Affekte von Büchners Nebenpersonen finden keine motorische "Abfuhr". Ihre Angst setzt sich im seelischen Innenraum fest. Sie deformieren zu Figuren. Die Reduktion ihrer motorischen Schutz- und Abwehrreaktionen


 INHALTSVERZEICHNIS


Erste Seite (I) Vorherige Seite (83)Nächste Seite (85) Letzte Seite (215)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 84 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst