- 85 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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führt in Bergs musikalischer Ausformung unmittelbar zur Entsubjektivierung.

     Der Walzer wird zum Strukturelement der dramatischen Zuspitzung der Oper. Er steht den Hauptpersonen, Marie und Wozzeck, nahe. Walzerfragmente zu Beginn fügen sich im Verlaufe der Handlung zu eingestreuten kleinen Walzerformen, die als Wiegenlieder fungieren oder an Totentänze erinnern und so Geburt und Tod verbinden. Ein auskomponierter, von einem zweiten Orchester überlagerter und getanzter Walzer bestimmt die vierte Szene des zweiten Aktes, die über Wozzecks und Maries Tod entscheidet.



1.4 Walzer und Bewegungslosigkeit


Die erste Szene zeigt Wozzeck mit dem Hauptmann bei der morgendlichen Rasur. Der Hauptmann mahnt Wozzeck zur Ruhe. "Langsam, Wozzeck, langsam! Eins nach dem Andern! (unwillig) Er macht mir ganz schwindlich ..." (Berg, Wozzeck 6). Wozzeck habe noch seine "schönen dreißig Jahr' zu leben! ... Teil' Er sich ein, Wozzeck". (Berg, Wozzeck 9). Als der Hauptmann ihn auf sein uneheliches Kind mit Marie anspricht, wird Wozzecks Hilflosigkeit offenbar. "... Da setz' einmal einer Seinesgleichen auf die moralische Art in die Welt! Man hat auch sein Fleisch und Blut" (Berg, Wozzeck 29-30).

     Der Hauptmann resigniert im Moment seiner geschichtslosen Selbstwahrnehmung. Ihm wird es angst um die "Welt", wenn er an die Ewigkeit denkt.


"Ewig", das ist ewig! (das sieht Er ein.) Nun ist es aber wieder nicht ewig, sondern ein Augenblick, ja, ein Augenblick! - Wozzeck, es schaudert mich, wenn ich denke, daß sich die Welt in einem Tag herumdreht: drum kann ich auch kein Mühlrad mehr sehn, oder ich werde melancholisch!

(Berg, Wozzeck 10-14)


Im Bilde des beständig um die eigene Mitte kreisenden Mühlrads spiegelt sich die Angst des sich absolut setzenden Ichs. Die Übertragung der Selbstwahrnehmung auf den symbolträchtig bewegten fremden Körper ist Anzeichen der Angst vor der Leere und Sinnlosigkeit von Leben und Tod. Die Angst um die Welt ist in Wahrheit Angst vor der Welt, vor dem "In-der-Welt-Sein". Das Kreisen des Mühlrads verkörpert eine erdschwere Bewegung, die sich der Leichtigkeit der Walzerbewegung entgegenstellt und eigentlich Bewegungslosigkeit und Starre als Zeichen der Angst vor dem Tode verkörpert.


 INHALTSVERZEICHNIS


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